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Georg Friedrich Haas – 11.000 Saiten, Foto: Markus Sepperer

Georg Friedrich Haas – 11.000 Saiten, Foto: Markus Sepperer.

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66 Minuten Soundsturm im Obertontsunami – Wien Modern eröffnet mit spektakulären Aufführungen

Vorspann / Teaser

Nachdem die letzten Ausgaben von Wien Modern von der Starre der Pandemie begleitet waren, scheint das Motto des 36. Jahrgangs nur folgerichtig: „Go – In Bewegung“ fordert nicht nur das Publikum in vielfältiger Weise zum körperlichen Erkunden des Dargebotenen auf, was bei der Dichte von über hundert Veranstaltungen bis zum 2. Dezember einiges an Lauf-Logistik erfordert, doch praktischerweise liegen die Spielstätten innerhalb des Rings in Wien ja recht fußläufig beieinander. Das Festivalsignet zeigt allerdings kein sprintendes Publikum, sondern einen Astronauten, was die Begrifflichkeit von Bewegung erweitert und einen wie auch immer gearteten, komponierten, erscheinenden Raum oder auch eine Vision, eine Vorstellung eines Raumes hinzufügt.

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Raumgeflecht und Punk

Der Festivalstart war mit mehreren großen Produktionen spektakulär angelegt und tatsächlich auch in der Wirkung eindrucksvoll und intensiv. Die das Festival im Wiener Stadtpark präludierende fanfare allez ensemble von Maria Gstättner legte eine bewegte Musik als konspiratives Treffen von Gardemusik und Punkband unter alten Bäumen an, dazu gab es eine obligatorische Lightshow über’m Wienfluss. So harmlos hat man sich allerdings schon in den 80ern in urbanen Zusammenhängen zusammengefunden und wahlweise das Grün, den Bach oder ahnungslose Spaziergänger zusammengetutet. Dann also auf ins Konzerthaus zur Festivaleröffnung – und auch das dort in neuer Fassung uraufgeführte Werk Saitenraum II von Peter Jakober war als Bewegungsstück konzipiert: 60 Streicher der Wiener Symphoniker gruppierten sich in drei Sälen und fabrizierten ein „Raumgeflecht aus mikrotonalen Bewegungen“ in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das präzise angeordnete Geflecht fand aber kein Pendant in der Wirkung, da man die drei nebeneinander liegenden Säle selbst akustisch erkunden musste und Überlagerungen und Potenzierungen nur an den Türeingängen wahrnehmbar waren. Daher war man eher dem Trugschluss erlegen, etwas dort zu verpassen, wo man sich gerade nicht aufhielt. Was blieb, waren spannende Momente von rhythmischen Ungeheuerlichkeiten oder sirenenartigen Gesängen.

11.000 Saiten

Wem das noch nicht genügte, der fand sich keine 24 Stunden später wieder im entstuhlten Konzerthaus ein, das zu Beginn des Festivals auf diese Weise eine regelrechte Wien Modern-Okkupation erfuhr (der Musikverein wird Mitte November in einem weiteren Konzertschwerpunkt ebenfalls radikal erobert und raumerkundet). Denn mit der Aufführung der 11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas für 50 Klaviere und Kammerorchester war in puncto Mikrotonalität und Raummusik ein Gipfel erklommen. Die im Hundertsteltonabstand gestimmten Klaviere, gespielt und geschlagen von 50 Studierenden der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien waren samt der Musiker des Klangforum Wien im Surround um das Publikum angeordnet, das diesmal innerhalb des großen Saales zwar zur Bewegung aufgefordert war, sich aber bald der Pferch-Situation bewusst einige gute Horchplätze stehend im Raum besetzt hielt. Eventuell wird auch dieses Konzert zum achtsamen Konsumverhalten beim Eierkauf beitragen, dennoch war das Sitzen „auf der Stange“ an den wenigen verbliebenden Plätzen an den Wänden eher wirkungsungünstig, da man dann die offene Resonanzseite der Klaviere vor sich hatte.

Was an Haas sicher und gerne erwartbar war, waren mikrotonale Genüsse der besonderen Art, die aber weit über spielerisch-zeigenwollende oder gar theatralische (die gab es auch) Gesten hinauswiesen. Haas’ Stücke besitzen auch den großen symphonischen Atem und eine passgenaue Planung der Ereignisse und Entwicklungen. So waren diese 66 Minuten Soundsturm nicht nur in jedem erfassten Augenblick spannend, sondern auch in der Verbindung zwischen detailreichen Phasen (wie herrlich eisig klingen minimalst verschobenen Dreiklänge plötzlich im Kontext!) und kolossalem Gewitter mit auch visuell eindrucksvoller Drastik von 100 behandschuhten, über die Tastaturen fliegenden Armen junger Menschen, denen im Wortsinn die selbstproduzierten Klänge um die Ohren flogen. Wenn die Köche gern vom speziellen Sinn des „Umami“ reden, war das hier wohl zwar eher ein Obertontsunami, aber tatsächlich habe ich noch nie so viele neue, neu gestaltete und gebirgeartig getürmte Klänge in einer einzigen Stunde gehört. Und tatsächlich war es noch nie so leicht, über Standing Ovations zu schreiben.

„Ist da jemand?“

Sitzplätze sind tatsächlich überbewertet, das zeigten auch einige Folgeveranstaltungen eher intimerer Art, bei denen der Ansturm so groß war, dass intelligente Lösungen seitens des Festivals gefunden werden mussten oder man sich einfach stehend in Gänge und Foyers und in Zweiträume mit Videoübertragung aufstapelte und einfach neben der Musik (in dem Fall solo gespielt vom fantastischen Akkordeonisten Bogdan Laketic) die Tatsache genoss, dass das Interesse an aktueller Musik keinesfalls abgeflaut ist – im Gegensatz zu manchen Abonnementkonzerten traditioneller Art. Dass sogar die subtile, an den Rändern der Hörbarkeit sich aufhaltende Musik eines Mark Andre eine ganze Domkirche zu füllen vermag, war dann am fünften Festivaltag erlebbar: sein Konzertzyklus „rwh 1-4“ widmet sich mit Stimmen, Instrumenten und Geräuschen dem „ruach“, ein Wort, das Atem, Hauch und Geist vereint und in eine Atmosphäre ernster Verinnerlichung führt. In der hervorragenden Aufführung durch das ORF Radiosymphonieorchester Wien, den Wiener Chormädchen, der Wiener Singakademie und dem SWR Experimentalstudio, geleitet von Roland Kluttig, fühlte man sich zu diesem Hinhören wärmstens eingeladen, und plötzlich ist nämlich in dieser Musik eine Menge los und tatsächlich in Bewegung. Das abendfüllende Werk verbindet sich vor allem durch wiederkehrende Gesten in Klavier und Schlagzeug, die pochenden Geräusche auf den Klavierkorpus scheinen tatsächlich zu fragen: „Ist da jemand?“, und vielleicht gilt die Frage von Mark Andre auch uns selbst, da in der Kirchenbank.

Ausblick

Während die ersten Tage von Wienmodern der Bewegung von Klang und Mensch galten, wird eine weitere Woche ganz klar den (gestalteten) Raum in den Fokus nehmen: der Architekt Peter Zumthor ist als Partner eingeladen, seine Handschrift den Konzerten hinzuzugeben und in Werkstattgesprächen musikalische Räume zu erkunden (15.-22.11.) – dazu gibt es im Musikverein Neues von Rebecca Saunders und Michael Jarrell. Weitere Highlights des Festivals werden Konzerte im Stadtraum bilden, die ungewöhnliche Orte ebenso beleben (Olga Neuwirth mit einem Gassatim-Konzert am 22.11.) wie auch die Glocken des Stephansdoms einmal ganz anders erlebbar machen (Peter Conradin Zumthor, 22.-24.11.). Der Erste Bank Kompositionspreis geht in diesem Jahr an das Kollektiv Nimikry (Alessandro Baticci, Rafal Zalech), die an der Schnittstelle von Musik und Technologie die Grenzen zwischen Instrumentalmusik und technologischer Innovation verschmelzen (Konzert am 28.11.).

  • Alle Konzerte finden sich auf https://www.wienmodern.at

    Wien Modern 36, „GO – Bewegung im Raum“, 31. Oktober bis 02. Dezember 2023

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