Ein gewaltiges Crescendo, darauf eine dynamisch stabile Streicher-Fläche und schließlich Stille. So endet Friedrich Cerhas Orchesterzyklus „Spiegel I bis VII“. Mit dessen Aufführung durch das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Ingo Metzmacher ehrten die Salzburger Festspiele am Samstagabend einen der bedeutendsten lebenden Komponisten Österreichs zu dessen 95. Geburtstag.
Allmählich erfährt Friedrich Cerhas (geb.1926) 80-minütiger Zyklus ähnliche Anerkennung für die musikalische Entwicklung des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts wie der ebenfalls siebenteilige Musiktheater-Zyklus „Licht“ des um zwei Jahre jüngeren Karlheinz Stockhausen. Aber „Spiegel I bis VII“ ist mit seiner 100- bis 111-köpfigen Orchesterbesetzung und klanglichen Verschmelzung mit Tonbandzuspielungen weitaus klarer als Stockhausens Live-Elektronik zum dramatischen Akteur erhebende Opus magnum.
Cerhas erstmals 1971 beim Musikprotokoll des Steirischen Herbstes in Graz vollständig uraufgeführter Zyklus fällt im Miteinander von Tonband und kontrastierenden Instrumentalstimmen überdies weitaus kürzer und abstrakter aus als Stockhausens esoterisch-dualistisches Erlösungsmysterium. Dabei folgt Cerha einer mindestens ebenso starken Klang- und Spannungsdramaturgie. Das hörte man zum Beispiel in der Hamburger Elbphilharmonie 2017 unter Matthias Pintscher. Auch das Publikum in der gut besetzten und als Konzertort faszinierenden Felsenreitschule war schon in den ersten Minuten mit euphorischer Aufmerksamkeit bis zur letzten Sekunde bei der Sache und applaudierte den Interpreten, dem eindrucksvollen Werk und dem Komponisten mit ehrlicher Bewunderung.
Im Jahr 101 ihres Bestehens feiern die Salzburger Festspiele ihr 100-jähriges Jubiläum und den mit 95 Jahren fast ebenso alten österreichischen Komponisten. Auch unter der Intendanz von Markus Hinterhäuser steht Cerha In den Salzburger Reihen Neuer Musik an vorderster Stelle und in der Gruppe von Komponisten, die zum genealogischen Kernbestand an der Salzach gehören – also zu den Nachfolgern von Richard Strauss und Gottfried von Einem.
In seiner pragmatischen Form der Zeichengebung erinnert Ingo Metzmacher an Michael Gielen, der einige „Spiegel“-Teile dirigiert hatte und zu dessen Repertoire dasjenige Metzmachers zahlreiche Überschneidungen hat. Metzmacher lässt den Klangkörper mit großen Freiheiten agieren. Das gerät, wenn das Orchester auf der vollen Breite der Bühnenfläche und trotzdem in enger Sitzordnung verteilt ist, durchaus theatral, selbst wenn die Festspiele und das ORF-Orchester Cerhas originalen Untertitel „Bühnenwerk für Bewegungsgruppen, Licht und Objekte“ nicht erfüllen. Das Erstaunlichste: Diese Musik, zu deren Thematik, Form und Ästhetik sich der Komponist selbst recht widersprüchlich und vage äußerte, kommt in ihrer hohen Komplexität bei Hörern auch ohne musikvermittelnde Hilfestellungen an. Nur zwei blau angeleuchtete kleine Boxen stehen in zwei Bogenfenstern der Felsenreitschule – die Durchmischung des Klangmaterials vom Tonband und den ad hoc physisch erzeugten Klängen geschieht meist unmerklich. Vor allem wird deutlich, dass diese Harmonien einem gewiss effektvollen, aber auch dringlichen Werkplan folgen.
50 bis 60 Jahre später klingt diese Musik weder nach einem historischen Fossil noch nach Herkunft aus einer der artistischen Provokationsmanufakturen des mittleren 20. Jahrhunderts. Die von Cerha angedachten Präsentation eines Theaters mit unverbindlichen Angeboten an Regie und Choreographie nahm performative Axiome des gegen lineare Inhaltlichkeit opponierenden Musiktheaters vorweg. Aber es fällt schwer, aus der fast klassizistischen Bogenform des Aufbaus von „Spiegel I bis VII“ die Andeutung einer Bewältigung von Erlebnissen während des II. Weltkriegs zu hören.
Vom ersten Cluster-Crescendo mit melodischem Diminuendo bis in die bizarren Mikro-Zerklüftungen des 20-minütigen Mittelteils offenbart sich die Partitur als brillantes Spielmaterial auf ganz hohem Niveau. Cerhas Spannung ist tragfähig durch alle Notensysteme mit bis zu 60 Einzelstimmen und graphischen Notationen, welche die Fäden und Flächen der akuten und konservierten Tonproduktion in ein lineares Gefüge setzen. Cerha arbeitete in den Instrumentengruppen mit Ballungen, mit Kontrasten von Totalen und mikroskopischem Gewirr. Metzmacher und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien artikulieren mit ihrer maßvollen Präsentation, dass es sich um ein packendes, weil mutiges Stück handelt wie Luigi Nonos Oper „Intolleranza 1960“, die ab 15. August am gleichen Ort zu erleben ist. Nono erklingt dann hoffentlich in ähnlich idealer Verhältnismäßigkeit von Anspruch und musikalischer Höchstspannung wie diese Hommage der Salzburger Festspiele an Friedrich Cerha.
- Sendung im Programm Ö1 am 13. August 2021 um 19.30 Uhr