Standing Ovations, Bravo-Rufe und nicht enden wollender Beifall, auf der Bühne zufrieden strahlende Orchestermitglieder, die einander gegenseitig umarmen, denen aber auch die Anstrengung der vergangenen Stunden ins Gesicht geschrieben steht: So endete die Uraufführung einer siebenstündigen Rekonstruktion von Abel Gances Stummfilm „La Roue“ (1923) beim diesjährigen Musikfest Berlin im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Unterbrochen von drei Pausen steuerte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Frank Strobel zu diesem Ereignis eine überzeugende Rekonstruktion der originalen Musikkompilation bei. Stefan Drees berichtet.
Abel Gances „La Roue“, („Das Rad“) zwischen 1919 und 1922 entstanden und 1923 mit einer Dauer von achteinhalb Stunden in Paris uraufgeführt, gilt aufgrund seiner innovativen filmischen Gestaltung als kineastischer Meilenstein der Stummfilmära. Erzählt wird die Geschichte eines Lokomotivführers, der nach einem schweren Eisenbahnunglück ein kleines Mädchen aus den Trümmern rettet und es neben seinem Sohn als eigenes Kind aufzieht, sich aber durch die aufkeimende Liebe zu der Heranwachsenden in Schuldgefühle verstrickt und die Schicksale der ihn umgebenden Menschen auf tragische Weise beeinflusst. Ziel des aufwendigen Restaurations- und Rekonstruktionsprozesses durch die Fondation Jérôme Seydoux-Pathé war es von vornherein, der vierteiligen Fassung von 1923 so nahe wie möglich zu kommen und dabei die sukzessiven Kürzungen und Veränderungen, die der Film im Laufe der Jahre erfahren hat, weitgehend rückgängig zu machen. Hand in Hand damit ging die Rekonstruktion der wohl ausgedehntesten Kinomusik der Stummfilmzeit, deren außergewöhnliche Qualität viel zum Erfolg der Aufführung im Konzerthaus beitragen haben dürfte.
Ein Fund und seine Folgen
Möglich wurde diese Rekonstruktion durch die Forschungen des Musikwissenschaftlers Jürg Stenzl, der vor einigen Jahren in der Notenbibliothek des Gaumont Palace Paris – während der 1910er und 1920er Jahre eines der größten Kinos der Welt – eine Liste mit all jenen Musikstücken entdeckte, die der Komponist Arthur Honegger (1892–1955) und der Kinokapellmeister Paul Fosse (1895–1959) als sogenannte Kompilationsmusik zur Begleitung von „La Roue“ für die Premiere ausgewählt hatten. Dass die Musik der 56 hier verzeichneten Komponisten – darunter Claude Debussy, Paul Dukas, Albéric Magnard, Darius Milhaud, Guy Ropartz, Albert Roussel, Camille Saint-Saëns und Florent Schmitt – fast ausnahmslos in französischer Spätromantik und Moderne verwurzelt ist, sich damals also durch einen hohen Grad an Zeitgenossenschaft zum Film auszeichnete, macht die Besonderheit dieser Zusammenstellung aus.
Auf Grundlage des Listenfunds ließen sich fast sämtliche 117 Stücke wiederfinden, aus denen bei der Uraufführung von „La Roue“ kürzere oder längere Passagen verwendet wurden. Dass sich die größten Lücken bei der Rekonstruktion ausgerechnet auf jene Originalmusik erstreckten, die Honegger selbst zu einigen Filmszenen komponierte, mag man besonders bedauern. Als einziges erhaltenes Beispiel gewährt immerhin die Ouvertüre Einblicke in die gestalterischen Ideen des Komponisten und sorgt dabei für einen denkwürdigen Einstieg in den Film: Während im Vorspann zunächst mit äußerster Knappheit und wenigen musikalischen Bausteinen die Charaktere der eingeblendeten Hauptpersonen umrissen werden, erklingt im Anschluss daran zu den Bildern fahrender Lokomotiven ein Teil jenes Materials, das Honegger kurze Zeit später in seinen berühmten sinfonischen Satz „Pacific 231“ einfließen ließ.
Alternativer Wahrnehmungsraum
Für die gelungene Rekonstruktion der Partitur zeichnet der Komponist Bernd Thewes verantwortlich. Ihm gelang es nicht nur, dem kompilierten Material eine schlüssige, den filmischen Höhepunkten und Szenenwechseln optimal angepasste Form zu verleihen, sondern er führte darüber hinaus die einzelnen Musiknummern, falls nötig durch eigene Zutaten und Übergänge ergänzt, in einer überzeugenden, zwischen sinfonischer Dichte und kammermusikalischer Transparenz pendelnden Orchestrierung zusammen. Von dieser musikalischen Grundlage her beleuchtete die Aufführung eindrücklich, mit welcher Sorgfalt Honegger und Fosse ihre Musikauswahl getroffen hatten, um damit die Wirkung der Filmbilder zu verstärken: Der dramaturgisch geschickt eingesetzten Gestaltung filmischer Atmosphären durch spezifischen Einsatz von Licht oder durch fein abgestufte Kolorierungen einzelner Sequenzen gesellte sich hier die Musik als Resonanzraum hinzu, der das Sichtbare in den Klang hinein vertiefte und dabei immer wieder auch den emotionalen Momenten des Films Nachdruck verlieh.
Besonders eindrücklich geriet das Zusammenwirken von Bild und Musik dort, wo Gance mit einem bis dahin nie gesehenen Schnitttempo die Montage aufeinander folgender Filmbilder ins Extrem treibt. Während so die visuelle Ebene im rasenden Hintereinander bruchstückhafter Eindrücke den Geschwindigkeitsrausch modernen Lebens einfängt, liefert die Musik mit extrem langsamen Tempi und langen Melodiebögen ein Gegengewicht, woraus sich während der Live-Aufführung eine enorme Sogwirkung entwickelt.
Dass solche und andere Stellen ihre Wirkung nie verfehlten, verdankte sich nicht zuletzt dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, das sich durch den stummfilmerfahrenen Frank Strobel zu Höchstleistungen anspornen ließ. Mit präziser Schlagtechnik führte der Dirigent das Orchester durch die technisch herausfordernde und klanglich immer wieder äußerst subtile Musik, steuerte dabei in gekonnten Steigerungen die als Höhepunkte fungierenden Synchronisationspunkte mit dem Film an, sorgte aber auch für eine verschwenderische Klangfülle bei der Modellierung melodischer Einfälle oder für eine pointierte Herausarbeitung rhythmischer Details insbesondere in den humoristischen Passagen – all dies im Dienst einer Musik, die dem Filmbild einen im wahrsten Sinne des Wortes alternativen Wahrnehmungsraum erschloss.
- Fernsehübertragung auf ARTE: 28. Oktober 2019 (TV-Premiere) & 4. November 2019