„Erfolg! Geld! Wir beobachten in neuesten Werken, dass die Musik nicht mehr interessiert. Die Musik wird von den Musikern verlassen.“ [Hans-Joachim Hespos]
Zwei Frauenstimmen. Hoch. Extrem hoch. Ungefähr so hoch wie die Schwalben fliegen. Rose Weissgerber, Manon Blanc-Delsalle, zwei Kölner Gesangsstudentinnen im unbegleiteten Vortrag von „canzone“ von Hans-Joachim Hespos, dem residence-composer des Forum neuer Musik, Ausgabe 2018. Eine Musik, die wie aus heiterem Himmel auf einmal alles überstrahlte, alles hinter-, alles unter sich ließ, was sich an diskursiv Verhärtetem, an kompositorisch Redundantem angehäuft, aufgestaut hatte. Leise, seraphische Töne. Eine „canzone“ ohne Worte. Und doch mit Botschaft. Als flüsterte uns einer ins Ohr: „L’imagination au pouvoir! Die Phantasie an die Macht!“ So stand es ja auf den Mauern im Pariser Quartier Latin im Mai 1968. Klar, solcherart Graffiti hat beträchtliches Eigengewicht, kommt selten über den Status des Slogan hinaus. Da geht man dann weiter, achselzuckend. Nicht anders wie man eine „canzone ohne Text“ bestenfalls für ein mehrdeutiges Gebilde halten kann, wogegen freilich die Aussage eines anderen Komponisten von „Liedern ohne Worte“ steht, der die Sprache, nicht die Musik in Verdacht hatte, mehrdeutig zu sein.
Einfühlsam
Zugegeben. In einem durchkomponierten, Punkt und Komma generös verschmähenden Konzertabend unter der bedeutungsschwangeren Überschrift „The Times, Are They a-Changin’?, konnte solches Engelssäuseln glatt untergehen. Tat es irgendwie aber nicht. Da blieb was zurück. Da war etwas, worüber man staunte. Wie man ja auch staunt über die abenteuerlichen Flugmanöver, die Stürze, die halsbrecherischen Luftkurven der Mauersegler. Hinterher stellte sich trotz eines an dieser Stelle recht einsilbigen Programmheftes heraus, dass Hespos seine „canzone“ ursprünglich für nur einen Sopran geschrieben hatte. Jetzt, dank eines einfühlsamen Arrangements von David Smeyers waren es auf einmal zwei schwalbengleiche Engel, die da abhoben. Im Handumdrehen fühlte man sich versöhnt mit der nun gewiss nicht unproblematischen Form des durchkomponierten Konzerts. Für David Smeyers und sein Hochschulgewächs ensemble 20/21, das von einem Forum neuer Musik längst nicht mehr wegzudenken ist, war es im Übrigen das zehnjährige Auftrittsjubiläum bei diesem hellwachen Frühjahrsfestival des Kölner Deutschlandfunks. Man kann diesem Orchestererzieher und seinen Eleven nur gratulieren. Im ensemble 20/21 begegnete dem Publikum eine Formation, die die Präzision der Ausführung mit der Geschmeidigkeit verbindet, den übergreifenden Themen dieses Festivals eine individuelle Form zu geben. Insofern war das Ensemble auch jetzt wieder eine Säule, da Forum-Kurator Frank Kämpfer zum Nachspüren, Nachlauschen der „Echoes of ’68“ eingeladen hatte: „Zehn Veranstaltungen richten den Fokus auf Emanzipatorisches, auf antiautoritäre Entwürfe, auf Versuche der Entfaltung lebendiger Demokratie – in aktueller Musik wie im Gesellschaftsdiskurs.“ Halten wir fest: der Bildungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen wurde hier erfreulich beim Wort genommen. Senden (hat man irgendwie auch von den 68ern gelernt) heißt eben mehr als nur widerspiegeln, als Methode Schau-ins-Land.
Entzaubert
68? – Sicher ist das kein vermintes Gelände, aber doch eines, das voller Untiefen ist, das seicht ist bis zum geht nicht mehr, das voller Klischees sein kann. Wie jeder weiß, fing als Protest an, was als Attitüde geendet hat. Aufgeschlitzte Jeans zum Beispiel. Heutzutage bei jeder großen Marke im Sortiment. Rebellische Aura im Preis inbegriffen. Natürlich (noch so eine 68er-Argumentationsfigur) ein Modediktat, das als Angebot daherkommt, dem sich niemand entziehen will. Von wegen „Große Verweigerung“ wie sie der Hausphilosoph der 68er, Herbert Marcuse, erträumte, ja, empfahl. Ist heute so weit weg wie die Gräber der Pharaonen. So die trockene Bilanz des Sozialwissenschaftlers, des Marcuse-Herausgebers Peter-Erwin Jansen in seinem Vortrag zur „absurden Rationalität des Fortschritts“. Man sank immer tiefer in seinen Stuhl, so zahlreich summierten sich die deprimierend stimmenden Befunde. Prominentestes Beispiel, weil gerade in aller Munde, die Zahl derjenigen, die heute weltweit bereit sind, sich vor einem US-Medienkonzern nackt auszuziehen, damit dieser die gewonnenen Daten an Werbekunden verkaufen kann. „Facebook“ nennt sich so was. Soll ein „soziales“ Netzwerk sein. Das Mitmachen, die Bereitschaft, irgendwelchen Verheißungen Vertrauen zu schenken als seinem eigenen Verstand, ist schier grenzenlos geworden. So blickten wir mit Peter-Erwin Jansen dem von Marcuse eindringlich beschworenen „eindimensionalen Menschen“ ins Gesicht – als schauten wir in einen Spiegel.
Ähnlich die Diktion des Kulturtheoretikers Martin Burckhardt. Dessen Vortrag war Entzauberung pur. Was „68“ selbst über sich verbreitet habe – die erhobenen Arme, bereit zum Steinwurf wahlweise zum heiligem Schwur, das Skandieren, das Protestieren, die herumgetragenen Poster der Heroen – ein einziges großes Selbstmissverständnis. Hinter dem Rücken der 68er habe sich wie die frei flottierenden Wechselkurse nach dem Zusammenbruch des Gold-Dollar-Standards von Bretton Woods eine Kommunikationsrevolution vorbereitet, deren Auswirkungen wir gerade erleben und (die Drohungen des Referenten waren sanft, aber vernehmlich) noch erleben werden. Burckhardt, ganz im Stil deterministischer Verhängnisphilosophen: „Wir haben nichts in der Hand, sondern das Netz uns!“
Entkoppelt
So geriet das diesjährige Forum neuer Musik zu einer Art fortwährendem Wechselbad. Die Vorträge, die Interventionen wuschen uns den Kopf, die Konzerte – ja was machten eigentlich die Konzerte? Zum Teil machten sie es auch. Durchaus nicht weniger gründlich, womit hier namentlich ein Schlusskonzert gemeint ist, das („typisch 68!“ kann man sagen) die Gemüter der Rezipienten erst stresste, dann spaltete. Wer sagt, dass Skandalkonzerte der Vergangenheit angehören? Der Vorgang selber dieser: Jede Menge Elektronik, Gitarre, Perkussion, zwei Saxophone, zwei Turntables verteilt in den Ecken des Deutschlandfunk Kammermusiksaals. Unter der Decke ein transparenter Kubus für Videoprojektion. Dazu Audio-Zuspiele zu allerlei medienkritischen, postkolonialistischen Themenfeldern.
Das Ganze hatte die Saxophonistin und Komponistin Nikola Lutz, „tätig im Feld der neuen Musik und experimentellen Kunst“, als eine die Hörgänge strapazierende Mischung aus Klangskulptur und Endzeit-Hörspiel angelegt, gewissermaßen das Diskursive des Festivalthemas („Fokus auf Emanzipatorisches, auf antiautoritäre Entwürfe“) in die musikalische Apparatur implementiert. Eine schöne Dramaturgie bestimmte den Kubus als sprechenden Supercomputer „Alexa“, anfänglich durch und durch dienstbarer Geist, der brav die Sound-Anweisungen entgegennahm, sogar die Lieblings-Rotweine des Teams auf seine Liste setzte. Gegen Ende kam, was kommen musste.
„Alexa“ wollte nicht mehr mitspielen, weswegen (vermuteten auch die Ausführenden an den Playstations) die Dinge irgendwie „out of order“ gerieten. „FOCO_2018“: die konzertgewordene Demonstration für die Abdankung der Gattung Mensch. Nicht die Phantasie, die losgelassene Technologie übernimmt das Ruder. An den Reglern, an den Schalthebeln der Macht „Alexa“, respektive ihr Alter Ego „Hal“, der coole Supercomputer aus Stanley Kubricks 1968 gedrehtem Sciene-Fiction-Klassiker „2001 – Odysse im Weltraum“, das Vorbild für „FOCO_2018“; nur lauter, nur wilder, verzweifelter, alles Spiel ausgetrieben. – ’68 mag Geschichte sein. Das Dumme ist, dass uns die „Echoes of ’68“ immer wieder einholen. Einholen müssen?