Musik als soziale Kunstform ist gegenwärtig tot. Normalerweise musiziert man gemeinsam, versammelt sich als Publikum, stellt zusammen Stille und Konzentration her, hört und sieht den Musizierenden zu, spendet Beifall und tauscht sich über das Erlebte aus. Doch wie lässt sich dieses lebendige Resonanzmodell zu Zeiten Corona-bedingter Veranstaltungsverbote retten?
Der Rundfunk kennt keine Bilder und Interaktion; Tonträger und Internet haben kein einmaliges Hier und Jetzt; und das Fernsehen meidet neue Musik wie der Teufel das Weihwasser. Wie beim ersten Lockdown wurden auch beim zweiten zahlreiche Konzerte als (Live-)Streams präsentiert. Doch trotz genau festgelegter Anfangszeiten wirkten die meisten Internetauftritte beiläufig, flach, enträumlicht, enstinnlicht, entkörperlicht. Es waren geist-, gefühl- und resonanzlose Abbilder, ohne direkte Ansprache, konzentrierte Atmosphäre und anregenden Austausch. Bei einigen Veranstaltern setzt sich daher die Einsicht durch, dass es nicht genügt, einfach Videokameras und Mikrophone auf konventionelle Konzertformate zu halten, um die pandemie-bedingte Trennung von Musik und Publikum zu überwinden. Wer etwas im Internet streamt, muss das auch mit und für die spezifischen Möglichkeiten dieses Mediums tun.
Wie die „Kulturretter“-Initiativen von Ländern, Gemeinden und dem „Neustart Kultur“ der Bundesregierung hat auch Baden-Württemberg ein spezielles Förderprogramm: „Kunst trotz Abstand“. Finanziert wird damit unter anderem die neue Onlinereihe „Magische Räume“ des Stuttgarter Veranstalters Musik der Jahrhunderte. Deren erster Live-Stream im November bot „SuperSafeSociety“ des 1987 in Nürnberg geborenen Komponisten, Medienkünstlers und Performers Andreas Eduardo Frank. Im Dezember folgte „Irrgarten“ der 1988 im chinesischen Qingdao geborenen Yiran Zhao. Und für März oder April plant man ein Projekt des seit 2017 in Berlin lebenden libanesischen Kontrabassisten, Schauspielers, Regisseurs und bildenden Künstlers Raed Yassin. Alle drei Projekte nutzen bereits existierende Stücke verschiedener Komponistinnen und Komponisten und sind auf die Neuen Vocalsolisten Stuttgart zugeschnitten. Offenbar geht es hier weniger um integrale Konzeption und Umsetzung künstlerischer Ideen als vielmehr um Wiederaufführungen aus dem Repertoire des Stuttgarter Ensembles zum Zweck von dessen Beschäftigung und Bezahlung. Carola Bauckholts „Witten Vakuum“ gelangte sowohl im Projekt von Frank als auch in dem von Zhao zu Wiederaufführungen. Zwei Sängerinnen halten sich hier die Rohre besonders leise arbeitender Staubsauger an die Mundwinkel, um im Luftstrom verschieden vokalgefärbtes Schlürfen, Schmatzen, Rattern und Flattern hören zu lassen.
Yiran Zhao hat in Beijing studiert sowie in Stuttgart, Basel und Linz bei Caspar Johannes Walter, Erik Oña und Carola Bauckholt. In die auf zwei Abende verteilten vier Livestreams ihres „Irrgarten“ konnten sich jeweils dreißig Besucher gleichzeitig mit einem Online-Ticket einwählen. Das Geschehen im Proberaum des Stuttgarter Theaterhauses ließ sich dann vom heimischen Computer aus verfolgen, je nach Lage und Laune auch bequem auf dem Sofa bei Drinks und Häppchen. In den Pausen zwischen den Aufführungen ließen sich per Mausklick kurze vorproduzierte Videos auswählen: Soloauftritte mit Stockhausens Verbalkomposition „Intensität“ aus dem Zyklus „Aus den sieben Tagen“ oder von Yoko Onos Konzeptstücken „Breath Piece“, „Orchestra Piece“, „Overtone Piece“, „Dance Piece“, „Echo Telephone“. Wer die gleiche Wahl getroffen hatte, gelangte wie bei Online-Meetings in einen gemeinsamen „Break out Room“, wo man sich über kleine Webcam-Bildchen sehen, winken, verlegen zulächeln und den zuweilen ebenfalls auftauchenden Vokalisten Applaus spenden konnte.
Bei Yiran Zhaos „YÁO YÈ #3“ von 2019 brachten zwei Akteure mittels Transducern Papierbahnen zum Rascheln, die von der Decke hängend den titelgebenden „Irrgarten“ andeuteten. Dazu bildeten elektronische Klänge in lang gestreckten Glissandi wahlweise sirrende Interferenzen oder harmonische Intervalle. Bei Jorge Gómezʼ Elizondos „die stumme Arbeit der Wörter“ wurden die in Krankenpfleger-Weiß gekleideten Vokalisten von kurzen Videosequenzen überblendet. Diese zeigten die augenblicklich artikulierten Phoneme und Wörter sowie Ameisen, Bienen, Bäume, Asteroiden, einen Totenkopf und umherwuselnde Menschenmengen. Kirsten Lindemanns Sprechtrio „Further and Back“ garnierte den ostinaten Beat „Om, om, huhu om“ frei nach dem Kinderlied „Old McDonald had a Farm“ mit Silben wie „Äh“, „Onk“, „Mä“, „Quä“. Bei Andrew Walshs „Magic Boxes“ beugten sich die Performer über von innen beleuchtete Kisten, so dass die Gesichter beim Pfeifen, Atmen und Stöhnen erstrahlten. In Zhaos abschließendem „behind the apples“ setzten sich die sechs Sängerinnen und Sänger Kontaktmikrophone unterhalb des Kehlkopfes an den Hals, um eine Polyphonie aus Knurren, Gurren, Atmen, Schlucken, Singen sowie von knisternden Barthaaren hören zu lassen. Im Internet bleibt von dieser technisch verstärkten Körperlichkeit jedoch kaum mehr als ein Schatten.