Das gehört zur „Werkstatt Bayreuth“: nicht nur das jeweilige Regieteam arbeitet an den Ergebnissen des Vorjahres weiter, quasi auch eine Weiterarbeit des Publikums findet statt, deutlich festzustellen an der sich verändernden Rezeption. So blieb Hans Neuenfels’ ursprünglich sehr kontrovers aufgenommene Sicht auf Wagners „Lohengrin“ als ein deutsches Rattenmärchen beim Premierenabend bei der Premiere im sechsten Festspielsommer ohne Widerspruch und wurde mit Standing Ovations gefeiert.
Die letzte Reprise dieser beim Publikum inzwischen ganz besonders beliebten Regiearbeit von Hans Neuenfels erhielt in diesem Sommer neue Aspekte durch einige Besetzungsänderungen und durch einen neuen Dirigenten.
Das Publikum mischt sich aus Connaisseuren, die Alles zum wiederholten Male genießen und Besuchern, die diese Versuchsanordnung der Lohengrin-Handlung im Labor deutscher Geschichte erstmals erleben – und die dann nach den ersten beiden Aufzügen mit beharrlichem Applaus und Trampeln ein Verbeugen der Sängerdarsteller erzwingen wollen, was dieser Regisseur jedoch grundsätzlich bis zum Ende aufspart.
Versuchsanordnung
Die Idee der Versuchsanordnung mit den beim Publikum inzwischen besonders beliebten, possierlichen Ratten und rosafarbigen Kinderratten hat sich insbesondere im Spiel des Chores, in einem räumlich minutiös geführten Arrangement, über die Jahre hin eingelöst durch die durchaus individualisierte Spielfreude der Chorist*innen. Das rattenuniforme Volk – ohne Unterscheidung von Sachsen und Brabantern – bleibt auch dann eine Horde animalischer Tiere, wenn sie ihre grauen Überwürfe ablegen und sich in sonnigem Gelb gewanden und bei der Ankunft Lohengrins eine Einheit bilden mit dem Publikum im dann hell erleuchteten Festspielhaus. Ratten bleiben sie selbst dann, wenn sie im letzten Bild des dritten Aufzugs ihre Köpfe, zu Helmen umfunktioniert, ablegen.
Überragender Chor
Individuell liebkosen die Herren die dicken Rattenschwänze der Damen im zweiten Aufzug, und individuell setzen sich die Damen mit ihren Schwänzen zur Wehr, wobei auch schon mal einer zu Boden fällt. Der von Eberhard Friedrich einstudierte, groß besetzte Festspielchor singt stets intonationsrein und präzise, selbst wenn sie nach hinten gedreht sind und den Dirigenten im magischen Abgrund nicht zu sehen vermögen. Aber der Besetzungszettel nennt auch fünf Chorassistenten, die teilweise von der Seite aus mitdirigieren.
Nach ihrer schwangerschaftsbedingten Abwesenheit im Vorjahr, singt wieder Annette Dasch die Elsa, noch runder und kraftvoller als vordem. Spannend, wie sie ihre Neugier bereits im ersten Aufzug entwickelt, wenn sie dem im schwarzen Nachen abgetragenen Schwan nachläuft, oder wie sie hier bereits masochistische Züge im Leiden entwickelt, wenn Lohengrin die in ihr steckenden Pfeile herausreißt.
Neuenfels ist zu danken, dass er darauf bestanden hat, den langjährigen, musikalisch und dramaturgisch gleichermaßen höchst fragwürdigen, nach dem Ende des zweiten Weltkriegs aus politischen Gründen praktizierten Strich im dritten Aufzug zumindest partiell zu öffnen, um so die darin weitergeführte Beziehung Elsas zu Lohengrin zeigen zu können. Das strindbergische Ausspielen einer permanent verhinderten Hochzeitsnacht lässt er dort im Versuch Elsas kulminieren, sich dem Angetrauten in aller Öffentlichkeit doch noch und nun mit aktiven Beharren körperlich hinzugeben. So erhalten Elsas letzte Ausrufe „Mein Gatte! Mein Gatte!“ zusätzlich den Beigeschmack einer unwiederbringlich vertanen Chance.
Klaus Florian Vogt ist mit der Titelpartie stimmlich gewachsen, hat insbesondere seine Mittellage weiter gestärkt. Er singt nun auch Phasen nach hinten, und kraftvollere Momente konterkariert er mit vierfachen, geradezu gesäuselten Piani, am Boden liegend, so etwa das zweite „Mein lieber Schwan“. Sein Siegesschwert schwingend, inmitten der jubelnden Chorherren, besitzt Vogts Stimme so viel Individualität, im Ensemble vernehmbar zu bleiben.
In diesem Sommer singt Jukka Rasilainen seinen Widersacher Telramund, weich und sehr sympathisch, glaubhaft in seiner sexuellen Hörigkeit zu Ortrud und mit einem aufgeregten Spiel der Hände dieses Paares, welches an die Aktionen mit den zu Pfoten verlängerten Hände der Chormitglieder gemahnt. Petra Lang badet geradezu in den grellen und schrillen Momenten der Ortrud, mit den ergänzten 1/8-Ausrufen in Pausen ihrer Partner und mit ihrem schauerlich gellenden Lachen vor ihrer Infragestellung „Gott?“.
Seit dem Vorjahr gewachsen ist Wilhelm Schwinghammer als ein skurriler, fallsüchtiger und pflegebedürftiger König Heinrich der Vogler, souverän und facettenreich in der Stimmführung und überzeugend in der Darstellung. Solche Einheit von Spiel und Gesang bietet auch Samuel Youn als Heerrufer.
Wehmut des Abschieds
Anstelle des in diesem Sommer durch Chefaufgaben in den USA verhinderten Andris Nelsons bewährt sich Alain Altinoglu als Neuling sicher am Pult des magischen Abgrundes. Das Vorspiel könnte sich noch mehr von lichten Höhen zu strahlend irdischem Glanz entfalten, aber das makellos spielende Orchester, die umfangreichen Ensembles von Solisten und Chören baut Altinoglu spannungsmäßig gut auf und leitet sie sicher.
Am Ende des letzten Premierenabends schwang beim Publikum Wehmut des Abschieds mit, da diese so farbenfrohe und helle, ethisch und ästhetisch hochwertige Inszenierung letztmals auf dem Spielplan steht. Anders als beim Premiereneröffnungsabend, wo der Aufbruch zum Staatsempfang ins Neue Schloss dem Schlussapplaus eigene Grenzen gesetzt hatte, wurde der Applaus nach dem „Lohengrin“ immer und immer wieder verlängert, und dies mit Ovationen wie bei einem Popkonzert: Schreien, Pfeifen und Trampeln der Begeisterung riefen alle Beteiligten immer wieder vor den Vorhang.
- Weitere Aufführungen: 4., 16., 20. und 27. August 2015.