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Fünfzig Jahre und kein bisschen alt: HK Gruber und Friedrich Cerha beim Wiener Jubiläumskonzert ihres Ensembles „die reihe“. Foto: Charlotte Oswald
Fünfzig Jahre und kein bisschen alt: HK Gruber und Friedrich Cerha beim Wiener Jubiläumskonzert ihres Ensembles „die reihe“. Foto: Charlotte Oswald
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Ästhetische Ausbuchtungen

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Das Wiener Ensemble „die reihe“ wurde fünfzig
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Nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa Ensembles zu gründen, die sich ausschließlich der jeweils neuen Gegenwartsmusik widmen wollten, gleicht einer wagemutigen Pioniertat – in Paris, wo Boulez 1954 „Domain musical“ ins Leben rief, vielleicht mit geringerem Risiko als in Wien. Aber just in dieser Hochburg der Tradition schlug schon bald danach, 1959, die Geburtsstunde des Ensembles „die reihe“, das, allen Imponderabilien zum Trotz, mit unverändertem Titel, – freilich mit mittlerweile anderen Ensemblemitgliedern – bis dato existiert.

Das wollte im fünfzigsten Bestandsjahr gefeiert sein, mit einem würdigen Jubiläumskonzert genau am Tag (22. März) des ersten Auftretens im Wiener Konzerthaus, damals mit Werken von Webern, Pousseur und Boulez, nun keine Replik dieses Programms, sondern eines, das gemäß der ursprünglichen Zielsetzung heutige Musik ins Zentrum rückte.

Der „historische“ Anteil dieser Veranstaltung waren György Ligetis „Aventures et Nouvelles Aventures“ (1962–66), die nach wie vor frappierende, dem absurden Theater angenäherte, unvermindert frische Umsetzung menschlicher Affekte in Musik ohne textliche Semantik. Ein passender Beitrag, weil einst von der „reihe“ unter Friedrich Cerha uraufgeführt, nun wieder von ihm dirigiert – er leitete übrigens das ganze Festkonzert. Zu ihrem Jubiläum vergab „die reihe“ 14 Kompositionsaufträge. Einer davon ging an Gerd Kühr, der mit feinem Humor zwölf auf die Geschichte des Ensembles Bezug nehmende, pointierte Miniaturen lieferte, Titel: „reihenweise“. HK Gruber, seit 1984 Hauptdirigent des Ensembles, reüssierte zum festlichen Anlass als Komponist und Chansonnier. Seine „Zeitstimmung“ nach Texten des von ihm verehrten H.C. Artmann setzt dessen flunkernder, subtil mit dem Wort spielender Poesie ein  selbst auferlegtes kompositionstechnisches Korsett mit Phantasie-Schlupflöchern entgegen.

Nun aber zum Anfang. Ein Abenteuer war es, mit höchst ungewissem Ausgang. Als Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik, angeregt von den Erlebnissen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1958 daran dachten, in Wien ein Ensemble einzurichten, das ausschließlich Neue Musik und deren aktuelle Tendenzen präsentieren sowie hierfür das Publikum erobern sollte, wusste niemand, ob dieses Experiment gelingen würde. Fünfzig Jahre später wissen wir, dass es sich sukzessiv dank ideeller Überzeugungskraft und unanfechtbarer Professionalität zur Erfolgsgeschichte wandelte. Vergegenwärtigen wir uns das Wien der Jahre zwischen 1950 und 1960. Um Literatur und Bildende Kunst stand es nicht  so schlecht, Art Club und „Strohkoffer“ mauserten sich zum Auffangbecken innovativer Geister. Die Musik hingegen lag im Argen, da noch Leute in Schlüsselpositionen werkten, die ihr Heil im Unheil des Nazi-Gedankenguts gefunden hatten und abblockten, was ihnen irgendwie „modern“ dünkte. In dieser Situation wuchs Karl Schiske, erst nach Intervention als Kompositionsprofessor in die Musikakademie aufgenommen, zum anregenden Leitbild ambitionierter Kompositionsschüler. Er schickte sie zu den Ferienkursen nach Darmstadt, unter ihnen Cerha und Schwertsik. Die Gründung des Ensembles erfolgte nach eingehenden Diskussionen der Beiden, ob das Projekt Zukunftsaussichten habe und finanzierbar sei, wie und mit welchen Musikern man es organisieren und wie es heißen solle. Den Namen lieferte György Ligeti: „die reihe“. Nicht wegen seriellen Reihendenkens, damals gerade en vogue, sondern weil die Hoffnung auf eine kontinuierliche Konzertreihe dahinter stand.

Schon der erste Abend im Schubertsaal des Konzerthauses, geleitet von Schwertsik und Cerha, war ausverkauft. Mit dem sprachlichen Idiom Neuer Musik vertraut zu machen und Hörbarrieren abzubauen, sei die Aufgabe der Konzerte, hieß es im Programmheft. Bis dahin hatte man in Wien allenfalls Gelegenheit, im Konzerthaus den Neoklassizismus kennen zu lernen, Werke der Wiener Schule wurden vorerst nur im kleinen Kreis von Eingeweihten zu Gehör gebracht. Sieben Wochen danach folgte das zweite Konzert, mit einem italienischen Programm (Maderna, Nono, Berio). Konzerthaus-Generalsekretär Egon Seefehlner stellte den Saal zur Verfügung, finanzielle Hilfe leisteten die IGNM (österreichische Sektion) und Joachim Lieben als Chef der Jeunesses musicales. Die von Schwertsik requirierten Musiker kamen aus fünf Orchestern, was die Probendisposition enorm erschwerte, zumal obendrein etwa zehnmal so viel geprobt werden musste als heutzutage, da niemand mit den Werken vertraut war. Aber es herrschte eine Aufbruchstimmung sondergleichen, gepaart mit Neugier auf eine völlig andere Klangwelt. Die meisten Kritiker jedoch übten sich ablehnend in Ignoranz, fachkundige Rezensionen waren die Seltenheit. 

Die „reihe“-Musiker erhielten bescheidene Honorare, die Gründer und Dirigenten keines. Ohne eine gehörige Portion Idealismus, heute in diesem Ausmaß unvorstellbar, hätte das alles nicht stattgefunden. Das dritte Konzert im November 1959, wegen des Andrangs schon im größeren Mozartsaal, bescherte der „reihe“ den schon legendären Konzertskandal bei der Aufführung des Klavierkonzerts von John Cage (weitere Werke von Christian Wolff, Earl Brown und Sylvano Bussotti). Die Aufregung schwappte über, es kam zu Handgreiflichkeiten, die im Publikum sitzenden Musiker, nur im Zeitablauf als subjektive „Uhr“ gelenkt von Schwertsik, hielten eisern durch. Vorinformierte Traditionshüter/-innen waren vorsorglich mit lauten Störinstrumenten gekommen. „die reihe“ sah sich mit Gehässigkeit konfrontiert. Aber gerade das schweißte das Ensemble zusammen und festigte die Überzeugung, das Richtige zu machen. Heinz Karl Gruber, später dazu stoßend, weil er partout bei diesen „Verrückten“ als Kontrabassist mitspielen wollte, empfand das Mitmachen als politische Haltung gegen eine noch immer spürbare Tendenz, die den Begriff „entartete Musik“ hochhielt.

Gleich die ersten Jahre der „reihe“ offenbarten deren nicht von Managern, sondern von veranstaltenden Komponisten gesetzten Ziele: Das möglichst komplette Gegenwartsspektrum der Musik und deren ideelles Fundament zu vermitteln. Man spielte, „was neu auf den Markt kam“, und das war damals sehr viel, denn zwischen 1951 und 1960 ereignete sich musikevolutionär so ziemlich alles, wovon man heute noch zehrt: Serialismus, Aleatorik, Elektronik, Grafik, Raummusik et cetera, und das ohne „Schule“-Bildung, denn dafür fehlte die Zeit. Utopien beflügelten das Denken und spiegelten sich in den „reihe“-Programmen, die alsbald ästhetisch durch die Besinnung auf die Tradition, die klassische Moderne, ausgeweitet wurden (Webern, Schönberg, Debussy, Strawinsky, Satie, Varèse, Hindemith). Komponisten, die dank gemachter Erfahrungen individuelle Bahnen einschlugen, waren gleichfalls willkommen. Sie garantierten die von nur einer ideologischen Linie abweichenden Ausbuchtungen. 

Erfolg

Erfolg begleitete die ersten zehn Jahre. Kleine Tourneen wurden absolviert, ab 1961 wuchs das internationale Ansehen. Dann, 1968, führten unbedachte Aussagen des Generalsekretärs Peter Weiser zum Exodus der „reihe“ (einschließlich Ligeti) aus dem Konzerthaus. Man suchte und fand schon zuvor andere Spielstätten: Dank Direktor Werner Hofmann das Museum des 20. Jahrhunderts, ein überaus passender Rahmen (etwa während der Wotruba-Ausstellung), die Atmosphäre war hervorragend, die Akustik weniger. Weiter die Zentralsparkasse, in deren früherem Hauptgebäude man gut aufgehoben war. Nicht zuletzt holte Otto Sertl, Musikchef im Hörfunk des ORF, „die reihe“ in die Argentinierstraße und ebnete die Wege in den Musikverein. Ab da rekrutierte sich der Kern des Ensembles zunehmend aus Musikern des Rundfunkorchesters. Es hat te sich aber schon längst ein Pool von Musikern aus renommierten Orchestern gebildet, der im Bedarfsfall über die Stammbesetzung hinaus verfügbar war, Musikerinnen und Musiker, die der Orchesterdienst allein nicht befriedigte und die an Novitäten interessiert waren.

Stunde der Wiederkehr

1978 schlug die Stunde der Wiederkehr: Hans Landesmann holte „die reihe“ ins Konzerthaus zurück, mit der Bitte, „Wege in unsere Zeit“ zu präsentieren. Ein damals wichtiges, bis 1983 laufendes Projekt, zum Wohle der unterbelichteten klassischen Moderne. Dieses Basis-Programm, erweitert durch aktuelle Werke, knüpfte an das Konzept der Gründerzeit an. Außerdem änderten (oder teilten) sich nun die Aufgabenstellungen. Denn damals entstand, initiiert von Beat Furrer, die „Société de l’Art Acoustique“, die sich der sozusagen jüngsten Gegenwartsmusik zuwandte und aus der das Klangforum Wien hervorging, das heuer sein 25. Bestandsjahr feiert (Anfang September mit einem Marathon-Programm). Es sind die Jahre, die eine erfreuliche Vermehrung von Ensembles bescherten, auf unterschiedliche Schwerpunkte fokussiert, und nur mit Neuer Musik im Repertoire. Beispielsweise wurden in Wien 1965 von Peter Keuschnig die „Kontrapunkte“ gegründet, oder 1975 in Salzburg das Österreichische Ensemble für Neue Musik (oenm), seit geraumer Zeit mit dem Stadler-Streichquartett als Kerntrupp und nicht zuletzt dank Johannes Kalitzke zur Hochform geführt. Zum Vergleich: Seit 1976 existiert das Ensemble InterContemporain (EIC, Nachfolger des Domain musical), seit 1980 das Ensemble Modern. 

1983 übertrug Cerha die Leitung der „reihe“ an Schwertsik und Gruber. Für das Ensemble musste ein geändertes Betätigungsfeld gefunden werden. Denn man wollte und konnte nicht mit Formationen konkurrieren, die sich nur auf „freie“ Musiker stützten, also auf solche, die an kein Orchester gebunden waren und mehr Zeit hatten, um nur Neue Musik zu spielen (beispielsweise die internationalen Spitzenensembles Klangforum Wien, Ensemble Modern und EIC, deren Arbeit die originellsten Resultate heutigen Komponierens zuzuschreiben sind). Folglich erfand „die neue reihe“ ab 1984 Zyklen, in denen auch andere Gruppierungen auftraten, etwa das Kronos-Quartett (erster Auftritt in Wien), oder das Pinguin-Café-Orchester, und man spielte unter anderem Musik von Hanns Eisler oder Werner Pirchner. Es war ein Reagieren auf den Pluralismus, auf die Buntheit mancher Ensembles. Aber derlei Ausbuchtungen stießen nicht auf ausreichend Gegenliebe, so dass sich nach fünf Jahren abermals die Marschrichtung änderte. Von der Überzeugung getragen, weitermachen zu müssen, haben Gruber und Schwertsik das Ensemble, nun wieder, in die Gegenwart  geführt. Zwar mit weniger Konzerten in Wien, der Stadt ihrer Gründung, aber nach wie vor auf Tourneen, und mit der Gewissheit, dank der Qualität der mitwirkenden Musiker konkurrenzfähig zu sein. Nach über 2.200 Auftritten seit der Gründung und rund 150 uraufgeführten Kompositionen wohl außer Zweifel.

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