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BABY DOLL, Premiere am 4. September 2020 Deutsche Oper Berlin. Foto: Thomas Aurin.
BABY DOLL, Premiere am 4. September 2020 Deutsche Oper Berlin. Foto: Thomas Aurin.
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Agitprop mit symphonischer Begleitung – Uraufführung von „Baby Doll“ an der Deutschen Oper Berlin

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Der Deutschen Oper Berlin gebührt inmitten der drei Opernhäuser der Bundeshauptstadt aktuell der 1. Preis: mutig und erfolgreich war das Haus an der Bismarckstraße vorgeprescht mit Wagners „Rheingold“ auf dem Parkdeck (und stemmte nun, während die Proben zu Stefan Herheims Neuinszenierung der „Walküre“ begonnen haben, ihre erste Premiere im Großen Haus, gar eine Uraufführung. Die Arbeit der Pariser Regisseurin, Filmemacherin und Autorin Marie-Ève Signeyrole ist eine Übernahme aus Metz, wo „Baby Doll“ infolge des Lockdowns am 13. März 2020 nicht mehr herauskommen durfte. Über das Ergebnis mag man künstlerisch und inhaltlich geteilter Meinung sein.

Wer will es GMD Donald Runnicles verdenken, dass er mit seinem Orchester die erstbeste Chance ergriffen hat, endlich wieder ein Konzertprogramm – auch noch passend zum Gedenkjahr, Beethovens Siebte – zu realisieren. Ohne Orchestermuschel ist das Orchester der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne platziert, der Orchestergraben ist auf einen sichelförmigen Schlitz reduziert, durch den im Spiel Anreichungen sowie Auf- und Abgänge erfolgen können; zwei Gitterwände an den Seiten deuten als einzige auf eine szenische Komponente hin. Weiterer Hinweis auf die Besonderheit des Abends ist ein links vorne platzierter Flügel, der bekanntlich in der Siebten nicht zum Einsatz kommt. Zwischen den Sätzen der Symphonie erfolgt eine klezmerartige, jazzige Improvisation des Yom-Quartetts mit Klarinette, Violine, Klavier und Schlagwerk sowie mit elektronischen Klangeffekten, was tatsächlich dazu führt, dass man Beethovens politisch intendierte Sinfonie mit erneut geschärftem Ohr hört – wie es bereits Michael Gielen in Frankfurt praktiziert hatte, indem er zwischen die Sätze von Beethoven-Sinfonien Kompositionen von Schönberg eingeschoben hatte.

Zwei zentrale Projektionsflächen, vertikal und horizontal, zeigen dem Publikum beim Einlass im corona-bedingt stark dezimierten Auditorium eine Liste gebräuchlicher Abkürzungen in politischer Organisation von Migrationspolitik.

Über Lautsprecher begrüßt der Hausherr sein Publikum und weist darauf hin, dass man am Platz die Mund-Nasen-Schutzbedeckung abnehmen dürfe, aber besser aufbehalten solle. Dann beginnt präludierend summend das Spiel: mit Besen werden nach rechts weisende, unbefraute Damenschuhe in den Graben gefegt.

Wie man dies inzwischen aus zahlreichen anderen Inszenierungen kennt, spielt die Live-Kamera eine wichtige Rolle, indem Details, etwa zwischen den Fingern rinnender Sand, für die Live-Projektion eingefangen werden.

Im Zuge der Digitalisierung verzichtet die Deutsche Oper auf ein ausführliches Programmheft; nur ein vierseitiger Besetzungszettel wird ausgegeben, sowie ein Blatt mit einem QR-Code, mittels welchem sich die Besucher*‘innen den Rest des Programmhefts herunterladen sollen auf ihre Handys (die selbstredend während der Aufführung ausgeschaltet sein sollen).

Aufreizend gewählt scheint der Titel des ungewöhnlichen Musiktheater-Abends, „Baby Doll“; relativiert wird er allerdings durch den Untertitel, „Eine Flucht mit Beethovens 7. Sinfonie“. Regisseurin Marie-Ève Signeyrole hat Zitate von und Fakten über – zum Großteil schwangere – Frauen gesammelt, welche die Flucht aus dem afrikanischen Kontinent, häufig mit ihren Kindern, nicht überlebt haben oder, nach zahllosen Vergewaltigungen, doch noch im ersehnten Europa angekommen sind und nun auf ihre Einbürgerung warten.

Diese Erlebnisse als textlich projizierte Beschreibungen spielt tanzend, auch mal im Wasser liegend oder watend, die farbige Performerin Stencia Yambogaza parallel mit und nach. Für die angedeuteten Vergewaltigungsszenen assistiert ihr der Performer Tarek Aït Meddour, mit den aus dem Tanztheater geläufigen, repetierenden Sprüngen auf den Körper der Partnerin. Später wird als dritte Protagonistin die blonde Annie Hanauer aus den Publikumsreihen auf die Bühne geholt. Denn zum letzten Satz der Siebten knüpft die Regisseurin eine Zukunftsvision von 2050 an: die westliche Menschheit ist aus klimatischen Gründen ebenfalls auf der Flucht; die unmenschlichen Grausamkeiten wiederholen sich nun durch Terrorregimes – an einer Weißen. Wie Marie-Ève Signeyrole im Interview sagt, hat der Sicherheitsapparat der Corona-Maßnahmen sie „sehr viel mehr an eine Diktatur erinnert“ und ihre Zukunftsvision bereits „beängstigend“ einge- und überholt.

„Baby Doll“, deutbar als Kleidungsstück zum Verhüllen von Schwangerschaft, als kindliches Lustobjekt, wie auch als Kinderpuppe, wird als Letzteres von der Live-Kamera en detail fokussiert und ergänzt durch vorproduzierte Videos auf dem linken der beiden Screens. Neben dem Einsatz der Nebelkanone gibt es Fluchten durchs Publikum, unterstützt von Suchscheinwerfern. Eindrucksvoll ist der Moment, wenn die Gitter geschlossen werden, um die gesamte Bühnenfläche zum Auditorium hin zu begrenzen, bewusst banalisiert allerdings durch einen Papierflieger, den Stencia Yambogaza Richtung Publikum wirft.

Ungewöhnlich ist das akzentuierte Mittanzen der Kamerafrau Claire Willemann: hinsichtlich der primär tänzerischen Umsetzung dieses Musiktheaterabends beruft sich das digitale Programmheft auf Richard Wagners Bezeichnung von Beethovens Siebter als einer „Apotheose des Tanzes“.

Die Aussagen Betroffener weiblicher Flüchtlinge werden als Texte projiziert. Erst im letzten Teil werden Texte auch Live gesprochen („My name is Annie“ – „I need help“ – „Ich bin ein Mensch, ich bin alle Menschen“). Gedruckte Noten auf den Pulten des Yom-Quartetts lassen darauf schließen, dass deren vorwiegend tonale Beiträge weniger improvisatorisch sind als angekündigt.

Nach dem Schlussakkord der Siebten brandet kurz Applaus der Beethoven-Conaisseure auf – doch das Spiel ist noch nicht zu Ende, und der dann angeknüpfte Part ist musikalisch einer der gelungensten dieses Abends: zusammen mit dem Yom-Quartett improvisieren nun auch die Musiker*innen des Orchesters der Deutschen Oper Berlin, initiiert vom GMD, der – mit seinem Dirigentenstab aufs Pult schlagend – auch für dezente rhythmische Effekte sorgt (ein Pendant zu jenem rhythmischen Knistern mit einer ADAC-Folie beim vorangegangen Spiel zu Beethoven). Die Soli des Klarinettisten und Komponisten Yom wirken darin wie kreatürliche Aufschreie in der vermischten Klangfläche der drei Mitspieler seines Quartetts mit dem Orchesterapparat.

Kurz vor Ende des pausenlosen, knapp zweistündigen Abends kommt dann eine Betroffene direkt zu Wort, die heute in Hannover lebende Kamara Leyla Bamousso. Sie hatte auf der Flucht das Kind einer Mitflüchtenden in Obhut genommen, es aber nicht geschafft, dieses zu retten: Dass die Frau hierüber emotional nicht hinwegkommt, verrät ihr Schluchzen während ihrer Ausführungen. Gleichwohl ist der Text festgelegt, wie es die vorbereitete Projektion der Übersetzung dieses Statements belegt. Integration Betroffener in Aufführungen ist dem jüngeren Theater nicht fremd, sie war etwa auch Inhalt einer prämierten Inszenierung der Auswahl des diesjährigen Berliner Theatertreffens (die digital übertragene Produktion „Chinchilla Arschloch, waswas“ von Rimini Protokoll). Ob eine derartige Darbietung noch als Kunstvorgang zu subsummieren ist, wurde wiederholt hinterfragt.

Jene Praxis zeitigt in der Deutschen Oper Berlin die Folge, dass forcierte Betroffenheit der Zuschauer*innen keinen spontanen Begeisterungsapplaus hervorzurufen vermag. Für die 13 führenden Beteiligten gab es je einen Blumenstrauß – zu gedämpftem, betroffenem Applaus.

Doch ist zu konstatieren, dass die Besucher*innen von dieser „Doku-Fiktion“, der Vermischung von Agitprop und Sinfonik, so gefesselt waren, dass sie der Weisung des Intendanten, beim Schlussapplaus gelte wieder die Maskenpflicht, (zumindest im Gesichtskreis des Rezensenten) keineswegs nachkamen.

  • Weitere Aufführungen: 6. September (15:00 und 19:30 Uhr) und 7. September 2020.

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