Das Musikfest Stuttgart, das in Fortsetzung der Europäischen Musikfeste in der Württembergischen Hauptstadt seit 2009 als „Themenfestival“ neu positioniert wird, widmet sich in diesem Jahr dem Generalthema „Wasser“. Ministerpräsident Winfried Kretschmann verwies zur Eröffnung nicht nur darauf, dass das Festival verschiedene bislang noch nicht erprobte Spielstätten wie den Trinkwasserspeicher Rohr nutze, sondern über so viel Mineralwasservorkommen verfüge wie sonst nur noch Budapest.
Mit der „Wasser“-Thematik sieht sich die Schwaben-Metropole nach den Worten von Oberbürgermeister Schuster so „gut aufgestellt“ wie bereits mit „Licht“ und „Nacht“ in den vergangenen Jahren, in denen sich gleichfalls Traditionelles und unterschiedlich zugeschnittenes Neues friedlich ergänzten.
Jetzt sorgen also das Wasser und seine Wege für künstlerische Zuflüsse am mittlere Neckar: Artist in Residence wurde Tan Dun, der sich nicht nur mit seiner 2003 auskomponierten Zeremonie „Tea“, sondern bereits in der 2000 in Stuttgart uraufgeführten Water-Passion mit dem Zusammenhang von Musik und nassem Element auseinandersetzte. Gonzalo Grau aus Venezuela komponierte im Auftrag der Bachakademie Stuttgart für das Festival das Oratorium „Aqua“, eine „Wasser-Musik“ des 21. Jahrhunderts, die Flußläufen folgt, Regen und Überschwemmungen beschreibt, über vergiftete Quellen wie über die Folgen eines Fortschritts klagt, der dem Wasser nicht bekömmlich ist (die Erstaufführung des kompletten Werkes findet am 3.9. zum Abschluß des Musikfestes Stuttgarter statt).
Zu dessen Auftakt wurden die Wasser des Ozeans aufgerührt, mit denen Kapitän Ahab zu tun hat, der den Lesern von Herman Melvilles Roman „Mobby Dick“ geläufig ist – und wurde beiläufig mit Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Elias“ an akuten Trinkwassermangel erinnert. Den Tod durch Verdursten, der auch heute wieder vielen schuldlos on Not geratenen Menschen droht, kündigt der Prophet Elias den Bewohnern Israels im 9. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an. Der Mann Gottes, der ohne Vorwarnung aus den Tiefen des Alten Testaments auftaucht, profiliert sich als Gegenspieler des Königs Ahab. Dieser bemerkenswert erfolgreiche Herrscher in Israel nahm es mit dem Alleinvertretungsanspruch des einzigen, allmächtigen, unsichtbaren, ewigen und ziemlich rachsüchtigen Gottes nicht genau (er liebäugelte mit dessen Erzrivalen Baal, welcher mit der Königin aus den fruchtbaren Ebenen des Libanon in sein eher karges Bergland gekommen war).
Helmuth Rilling beseelte das Bach-Collegium Stuttgart und die stark besetzte Gächinger Kantorei zu einer Interpretation aus dem Geist der Oratorien-Tradition des 19. Jahrhunderts. Der königliche Solo-Sopran von Camilla Nylund begann in der zweiten Halbzeit unbewölkt zu strahlen. Markus Eiche war von Anfang an mit seinem gewaltig strömenden, im Piano wunderbar geschmeidigen Baßbariton präsent – eine Eichbaumstimme, wie geschaffen für die Partie des unbeugsamen Propheten, der zweimal fliehen muß und sich schließlich im Wadi Kelt als Eremit seiner emphatischen Gotteserfahrung erinnert. Die mit Rilling sich aufwölbende inbrünstige Interpretation unterstreicht den Glaubensfeuereifer des Elias und aus vollen Rohren die Überdrücklichkeit eines Tonsatzes, die manchen heutigen Ohren vorkommen mag wie das Pfeifen des eigentlich gar nicht ängstlichen Manns im dunklen Wald.
Leise Bedenken melden sich auch hinsichtlich eines an Oratorienmodellen des 18. Jahrhunderts sich orientierenden Anachronismus Mendelssohns. Bereits 1846, als der im Zenith seines Ruhmes stehende Künstler sein op. 70 beim Musikfest in Birmingham uraufführte, galt es nicht mehr als schicklich, die Hohen Priester einer konkurrierenden Konfession wegen religiöser Auffassungsunterschiede gefangen zu setzen, hinab an den Bach zu führen und daselbst zu schlachten (1. Teil, Rezitativ und Chor Nr. 16) – und dann auch noch laut zu singen: „Danket dem Herrrn, denn er ist frrrreundlich“ (Merke: Heutige Reanimationen atavistisch blutrünstiger und menschheitsgeschichtlich nur bedingt hilfreicher Erzählungen von den rauhen Sitten in fernen Ländern früherer Zeiten dürfen sich, und sei es nur in der Packungsbeilage, zu den verhandelten Inhalten ‚verhalten’). Unerfindlich bleibt auch, warum das nazarenisch schöne Engelsterzett „Hebe deine Augen auf zu den Bergen“ (Nr. 28) nicht von drei jungen Neckartöchtern, sondern von einer ganzen breitgezogenen Damen-Meute exekutiert und auch das Doppelquartett (Nr. 7) nicht solistisch musiziert wurde.
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Einen doppelten Brückenschlag suchte das Melodram „Ahab“ des Librettisten und Regisseurs Martin Mühleis mit einem in breiten Pinselstrichen ausgeführten, ganz überwiegend tonal gehaltenen und recht redundanten Tonsatz des Stuttgarter Orchestermusikers und Komponisten Libor Šíma zu bewerkstelligen: den der Landratten zur aufgewühlten literarischen Meereswelt Herman Melvilles aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und den des „klassischen“ Symphonieorchesters zur Filmmusik, wie sie Hollywood in der Mitte des 20. Jahrhunderts pflegte. Dominique Horwitz gelang eine rhetorische Glanzleistung: als Ich-Erzähler Ishmael deklamierte er voll Empathie Erinnerungen an die haßerfüllt leidenschaftliche Jagd nach dem weißen Wal Mobby Dick und absolviert die Exkurse zum Widerstandsrecht gegen einen aus dem Ruder laufenden Befehlshaber. Gestützt, kontrapunktiert bzw. überlagert wird die Rezitation von einer hoch ausgesteuerten Tonspur, für die die Bezeichnung „narrativ“ viel zu schwach wäre: es handelt sich um resonative und tumultuative Musik.
Mit seinem Rachefeldzug gegen das freiheitshungrige Tier verstieß Kapitän Ahab in prometheisch hybrider Weise gegen Grundsätze der „christlichen Seefahrt“. Den Namen des alttestamentarischen Monarchen trägt er nicht zufällig: ihn auch erreicht die Strafe einer höheren Gerechtigkeit. Das könnte dem Werk gleichfalls widerfahren: So geschäftig die Streicher scharren und die Bläser die Sturmbacken aufblasen: eine philosophisch genährte Katastrophenmusik könnte und müßte heute nicht so retrospektiv naiv ausfallen und ungehemmt tonales Wasser lassen.
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Gegenüber dem „Europäischen“, das Helmuth Rilling als Festival-Leiter des Musikfestes im Herzen Baden-Württembergs akzentuierte, soll und will der Nachfolger Christian Lorenz die stuttgarterischen Faktoren stärken. Ob dieses offensichtlich mit den Geldgebern und dem Hauptsponsor Daimler abgestimmte Verjüngungskonzept langfristig den „Leuchtturm“-Charakter des ambitionierten Unternehmens sichert, steht in den Sternen von Glaube, Liebe und Hoffnung. Und das sind auch die Themen der Musikangebote in den nächsten Jahren.