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Akkordernte mit Tontrauben

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Zur 44. Ausgabe der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik
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Toscanini aus dem Off: Die Internationalen Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt gingen mit einem kontrastreichen und auch kurzweiligen Konzert mit dem hr-Sinfonieorchester unter der entspannt wirkenden, souveränen Leitung von Lucas Vis in ihre vierundvierzigste Auflage.

Der seit den Anfängen der Kurse vor mehr als sechzig Jahren mit Darmstadt verbundene und seit einigen Jahren dafür wieder aktivierte Frankfurter Klangkörper zeigte im Staatstheater Darmstadt einmal mehr, um welche klanglichen Vorstellungen zeitgenössische Komponisten mit ihren Partituren konzentrische Kreise ziehen können: um ironische Brechung als Musik über Musik und Musiker bei dem Frankfurter Komponisten Robin Hoffmann, um ein Memory-Spiel mit traditionellen Formen, inklusive Frack des Solisten, bei dem Briten James Clarke oder auch um die Transformation abendländischer Mehrstimmigkeit in ein nachempfundenen akustischen Gebirgsrelief bei Isabel Mundry.

In „Zeichnung“ für Streichquartett und Orchester verwebt die 1961 in Schlüchtern geborene Komponistin das oft frei wirkende und schwebend intonierte Linienspiel des Arditti Streichquartetts mit den Orchesterinstrumenten als klangliche Ausfransungen: Musik der Auffaltung. Moränenhaft breitet das Orchester Klangmatten aus, hinter denen die Quartettspieler aberwitzige, schroffe Felsnadeln in den Raum stellen. Aphoristische Wendungen und zuweilen auch Lyrismen vermitteln eine Ahnung von abstrakter Natur dieser Musik am Wachstumsort.

In Robin Hoffmanns Auftragswerk „Schorf“ für großes Orchester wurde das mittlerweile zum Standard zeitgenössischer Musik vorproduzierte Zuspielband konterkariert. Statt aufgenommener und meist elektronisch weiter verarbeiteter Klänge, die als Duopartner mit dem Orchester konzertieren, nahm Hoffmann Beethoven-Probenaufnahmen von Arturo Toscanini. Die klangliche Patina der historischen Aufzeichnung bildete zusammen mit den zerfurchten, zerbröselnden, zerrspiegelartig geweiteten und letztlich Beethovens Coriolan-Ouvertüren-Partitur zerreißenden Springbögen der Streicher ein Akkord-Erntedankfest. Die Tontrauben hingen kurz vor dem Fallobst-Stadium immer schwerer am Liniensystem.

James Clarkes erinnerte im weiteren Auftragswerk „Untitled No. 2“ für Solo-Klavier und Orchester ebenfalls an klassische Tontrauben. Die ließ er allerdings gewissermaßen in Endlosschleife und dabei hochvirtuos in den Theaterraum fließen. Mit halbstündiger Scheintonalität zog er dem Publikum wahrlich die Ohren lang. Als Organisationsprinzip wirkte dieser Adagio-Gestus mit Ausklang und Wiederholung dennoch konsistent.
Empfehlung: Augen schließen. Nicolas Hodges Tastenkunst folgte träumerisch der Leitung von Lucas Vis. Den verbindet mit dem hr-Sinfonieorchester schon lange eine innige Freundschaft, von dem die Ferienkurse nur profitieren können. Mit Iannis Xenakis schlagwerkseligem „Jonchaies“ für Orchester unternahm der auch sehr John Cage-erfahrene Vis mit dem Orchester abschließend tatsächlich große Sprünge: Überlappungen der ins monströse auswuchernden Metren, terrassenartige Beschleunigungen großer Klangblöcke bei gleichzeitig unterschwelligen Ausbremsungen der sich ständig hochschraubenden Überdehnungen verwandelten jede Tonleiter in eine bizarre Achterbahn.

„Spielen, hören, sehen,“ so brachte Dirigent Lucas Vis bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt die Kardinaltugenden eines Musikers für zeitgenössische Musik auf eine Superformel. Spielend, so der Amsterdamer Dirigierdozent, sollte sich ein junger Ferienkursteilnehmer fast jeder technischen und ästhetischen Herausforderung stellen, um daran zu wachsen. Hörend müsse er mit den Kollegen in künstlerischem Kontakt bleiben, um sein eigenes Spielen immer wieder zu verbessern und in Einklang zu bringen. Gewissermaßen aus den Augenwinkeln sehend, könnte solch ein Instrumentalist der Neuen Musik auch Gefahr im Verzug rechtzeitig entgegensteuern, wenn das Klangbild gefährdet sei.

Insgesamt kamen mehr als 350 junge Musiker, davon die Hälfte Komponisten aus vierzig Ländern, in die Wissenschafts- und Musenstadt, um an diesem ebenso geschichtsträchtigen wie innovativen Ort der Neuen Musik einen Quantensprung zu wagen – in mindestens eine Nummer größere künstlerische Fußstapfen. Das ist der nunmehr seit 62 Jahren anhaltende, fast dauerhafte Erfolg der einst als Bauhaus der Neuen Musik vom 1910 in Essen geborenen Wolfgang Steinecke gegründeten Ferienkurse:

Sie sind international, sie stehen für Aufbruch und Griff nach den Sternen. Das ist das Recht der Jugend. Es muss nicht gleich Sirius sein. Wer hier gute Leistung zeigt und mit einer Aufführung gewürdigt wird, besser noch mit einem Kranichsteiner Musikpreis, darf zu Recht hoffen, dass Folgeaufführungen oder ein Kompositionsauftrag an ihn herangetragen werden. Wo sonst können gleichermaßen Musiker und „Musik am Wachstumsort“ (Rihm) so wunderbar gedeihen und flügge werden wie in dem sommerlichen Verpuppungsgewächshaus, das sich Internationale Ferienkurse für Neue Musik nennt. Hier gibt es keinen demografischen Faktor, wenn es fast schon unzeitgemäß in kleinen Gruppen um den Stand des Komponierens heute geht oder neue Spieltechniken eingeübt werden. Immer geht es um die musikalische Substanz, das musikalische Denken. Die Klassenzimmer sind voll, die Einschreiblisten etwa von Isabel Mundry und Vykintas Baltakas eng mit Namen beschrieben. Jeden Morgen standen Komponisten im Festivalbüro und fragten nach der heiß herbeiersehnten Ankunft von Wolfgang Rihm. Er kam, sah, hörte, sprach und wurde auch gespielt. Das Ensemble Modern unter der Leitung von Frank Ollu rockte förmlich die gut fünfzigminütige „Version 2008“ seiner „Jagden und Formen“ für Ensemble. Diese Musik war selbst schon ein Jungbrunnen – pralle Energie. Wolfgang Rihm, der schon als Karlsruher Schüler an den Ferienkursen teilnahm, ist dank seiner eigenen Offenheit und Motivationskraft, die er und seine Musik vermitteln, einer der Erfolgsgaranten der Ferienkurse.

Die etwas Glamour in die Ferienkurse und den schmucklosen Aufführungsort Sporthalle am Böllenfalltor bringende Schauspielerin Corinna Harfouch konterkarierte mit schön zug’reist bayerisch klingenden Texten von Karl Valentin in Manos Tsangaris’ „Haben Sie Zeit?“ Ferneyhoughs klassizistisch anmutende „Chronos-Aion“-Komposition im gleichen Ensemble-Modern-Konzert. Brian Ferneyhough war der andere Komponist großen ästhetischen Gewichts. Er gab ebenso geduldig Unterricht wie alle jüngeren Kollegen. Überhaupt ist Komposition das Kerngeschäft in Darmstadt seit je, muss es bleiben. Dessen war sich auch der nächstes Jahr aus dem Amt als Direktor des Internationalen Musikinstituts Darmstadt scheidende Solf Schäfer bewusst. Er begann vor zwölf Jahren gleich mit dem fünfzigsten Jubiläum und verpasste den Ferienkursen mit straffen Lehrstrukturen und ästhetischer Weitung eine erfrischende Runderneuerung. Auch führte er die Orchesterkonzerte wieder ein. Das bedarf in widrigen Zeiten knappen Geldes großer Diplomatie im Umgang vor allem mit den Rundfunkanstalten. Die hat Schäfer bewiesen.

Das Abschlusskonzert bestritt das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit Werken von Baltakas, Misato Mochizuki und Wolfgang Rihm – ein Dank für Solf Schäfers immer auch sympathische Arbeit und Art. Er hat die Ferienkurse ins neue Jahrhundert ohne Reibungsverluste geführt, neue Spielstätten für akustische Kunst und Klanginstallationen in der Stadt gefunden und hochkarätigen Ensembles der Neuen Musik in Darmstadt ein Stelldichein beschert. Das hervorragende Trio Accanto zeigte mit Werken von Billone, Neuwirth und Thomalla für Schlagzeug, Saxophon und Klavier, dass etwa ein heilendes Hand-Auflegen auch auf Metallfedern einen hohen musiktherapeutischen Wert haben kann – wenn plötzlich Frequenzgänge in den Raum schnellen, die man eigentlich nur aus der Lautsprechermusik kennt.

Die Neuen Vokalsolisten glänzten stimmlich mit Werken von Vykintas Baltakas, Annette Schmucki und Gerhard Stäbler. Stäblers „...ins Offene...“ für sechs Stimmen auf Gedichte des argentinischen Schriftstellers Roberto Juarroz behandelt fast schon szenisch die Frage nach der richtigen – für alles offenen – Lebensweise. Der im nächsten Jahr sechzig werdende Komponist ließ dabei auch die polyphonen Gesangslinien jeweils mit offenen Schlüssen verklingen. Ein unterschwellig mitlaufendes Espressivo verwies von der Materialseite auf den menschlichen Affekt: erfrischend kontrovers in Darmstadt rezipiert. Die Ardittis spielten alle Streichquartette von Brian Ferneyhough und Werke von Preisträgern des Staubachpreises. Ferneyhougs Musik klingt zwanzig Jahre nach der auf ihn gemünzten „Neuen Komplexität“ ziemlich figurativ, fast schon sonatenhaft. Das erstaunte. Die Staubach-Preis-Quartette von Birke Bertelsmeier, Kristian Ireland, Felipe Lara oder Arturo Fuentes, elektronisch unterstützt vom Experimentalstudio für akustische Kunst, waren wie Artikulationsstudien angelegt: Bertelsmeier arbeitet mit fließenden Harmonien und Stimmungszuspitzungen, Ireland schoss ein Obertonfeuerwerk ab und Fuentes nutzte elektronischen Raumklang, um bestimmte Gesten fokusartig für den Hörer zu vergrößern.

Wie aber geht es in Darmstadt jetzt weiter? Wieviel ist der Stadt das Internationale Musikinstitut mit seinem digitalen Musikarchiv, der an geschichtsrelevanten Quellen berstenden Bibliothek wert und welche Rolle will man dem Institut für die Zukunft im zeitgenössischen Musikleben zugestehen? Und wie kann man diese Schätze online zugänglich machen. Darmstadt als Hirn der Neuen Musik: Das wär’s. Wie auch immer: Die Medienarbeit muss dringend verbessert werden, die Ferienkurse müssen auch ein Exportschlager werden. Gute Partner dafür stehen bereit.

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