Angeregt durch den französischen Opernsänger Alfred Tomatis, der als HNO-Arzt zahlreiche Sänger behandelt und eine eigene Therapie gegen Autismus entwickelt hat, ließ sich die 1980 in Athen geborene, in Berlin lebende griechische Komponisten Irini Amargianaki zu ihrer interdisziplinären Komposition „ANS (AutonomesNervenSystem)“ anregen.
Tomatis’ „Mozart-Therapie“ arbeitet mit der Filtrierung von Frequenzen, basierend auf der Erkenntnis, dass der Ton durch Luft und Knochenleitung zum Gehirn des Rezipienten dringt.
Den meditativen Parasympathikus zeichnet die Komponistin durch die tiefe Lage zweier Bassklarinetten und der großen Pauke, den Sympathikus als Stressfaktor mit Cembalo, Harfe und Perkussion in hohen Lagen, und den vermittelnden Nervus vagus mit dem Violoncello. Wie bei einer russischen Puppe, sollen, beginnend mit dem Organ Haut, immer neue Klangräume innerhalb des menschlichen Körpers und seiner Organe freigesetzt werden. Und als Schattentheater, so Amargianakis Intention, sollen die im Ohr ankommenden Teilchen sichtbar werden.
In Woody Allens Film „ Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“ (1972) begibt sich der Komiker im Kostüm eines Spermafadens ängstlich auf die Reise in den Uterus. Ähnliches blüht den Besuchern der jüngsten Uraufführung an der Werkstatt der Staatsoper, wenn sie den klinischen Kunstraum Stephan von Wedels zur eigenen Behandlung betreten.
Auf jedem weißen Stuhl des Auditoriums ist ein eigener kleiner Lautsprecher an elastischen Schüren aufgespannt, der als fremde Stimme im Körper des Zuhörers vibriert. Was Tomasi therapeutisch gegen gestörte Kommunikation einsetzt, nutzt die Komponistin zur Kontaktaufnahme und schafft dem isolierten Klang Raum im Raum. Ihre Intention und deren Umsetzung bedürften wohl einiger hilfreicher Erklärungen im Programmheft, doch darauf verzichtet die letzte Produktion dieser Spielzeit an der Staatsoper gänzlich.
Rechts und links vom mittig platzierten Orchester umgeben farbintensiv mikroskopische Projektionen die äußeren Einblicke in die inneren Organe eines nackten Paars (Video: Maryna Shuklina).
Die klassisch notierte Partitur stellt im rein konzertanten ersten Teil die musikalische Übersetzung des autonomen Nervensystems in Musik dar: mit col legno-Schlägen auf das Violoncello und kastrierten Klängen der mit einem Papierstreifen zwischen den Seiten präparierten Harfe, zusammen mit im Unisono überblasenen Bassklarinetten.
Mit dem Einsatz des Cembalos beginnt auf einer zentralen Fläche im Rang ein abstraktes Schattentheater: die schwarzen, weißen und roten Schemen stehen für die Teilchen der Klänge, die ins Ohr dringen. Wenn das Orchester schweigt, vibrieren die Geräuschbewegungen von Schlagwerkklängen im Rücken des Zuschauers – offenbar als vorproduzierte Einspielungen. Und manuell gezupfte Seiten des Cembalos assoziieren die Reizung der Nervenfäden. Im dritten Teil vermittelt das Cello in hoher Lage zwischen den tiefen Regionen der Bassklarinette und den hohen Tönen des Cembalos, was zunächst dazu führt, dass auch die beiden Bassklarinetten nervöse hohe Töne produzieren. Dazu tropft die Schattentheaterfigurantin Lisa Haucke mit einer Pipette Farbe in eine Wasserschale.
Die hohen Glöckchen des Perkussionisten, das Zusammenspiel zwischen Cello und Harfe, das gestrichene Becken und die tieferen Instrumente in hoher Lage ergeben ein durchaus eigenartiges, bisweilen sogar faszinierendes Klanggefüge. Im letzten Teil von Amargianakis Untersuchung über die Frage unserer Wahrnehmung ertönt eine mütterliche Stimme, deren unbegleitete griechische Sätze vom Orchester aufgenommen, quasi nervlich verarbeitet werden. Die vokale, esoterisch anmutende Botschaft ist, dass „ideale und gelebte Stimmen“ manchmal in unseren Träumen zu uns sprechen, sich in uns festsetzen und manchmal „für einen Augenblick“ zurückkehren, „Geräusche der Urdichtung unseres Lebens, wie Musik in der Nacht, die in der Ferne verklingt“. Die Einsätze dazu gibt Dirigent Róbert Farkas, der quasi als Musik-Regisseur diesen Abend leitet.
Mit der Maßgabe, dass Besucher der Vorstellungen von Sciarrinos ‚Luci mie traditrici’ „mit ihren Eintrittskarten am gleichen Tag im Anschluss auch die Vorstellung in der Werkstatt besuchen“ können, begann die knapp 45-minütige Uraufführung erst um 21 Uhr.
Irini Amargianakis „ANS“ reiht sich ein in die Reihe medizinischer Kompositionen, die von Peter Gotthardts Biomusik für Kammerorchester und Projektion „Hymnus an das Insulin" 1991 initiiert wurde.
Die kribbelnden, elektroakustisch erzeugten Gefühle in Korrelation zur neuen Musik wurden vom Publikum einhellig als ungewöhnliche Erfahrung aufgenommen. Der exzellenten musikalischen Ausführung durch Mitglieder der Staatskapelle sowie der Komponistin wurden lebhaft applaudiert.
- Weitere Aufführungen: 14. und 16. Juli 2016.