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In der Köthener Bachkirche St. Agnus am Ende ihres Geburtstagskonzerts vereint zum Bach-Choral (v.l.): Melissa Wedekind, Margret Köll, Hans Fröhlich, Romina De la Fuente Villarroel und Derya Atakan. Foto: Claudia Irle-Utsch

In der Köthener Bachkirche St. Agnus am Ende ihres Geburtstagskonzerts vereint zum Bach-Choral (v.l.): Melissa Wedekind, Margret Köll, Hans Fröhlich, Romina De la Fuente Villarroel und Derya Atakan. Foto: Claudia Irle-Utsch

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Alfred Tokayers Musik als Brücke

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Mit einer Hommage an den jüdischen Musiker feiern die Köthener Bachfesttage den Geburtstag Bachs
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Da brennt eine Kerze. Neben dem Bild, das einen Menschen zeigt, der in sich zu ruhen scheint. Einen Mann mit verhaltenem Lächeln im Blick. Die Arme aufgestützt, die Finger ineinander verschränkt, die ganze Erscheinung freundlich und nachdenklich zugleich. Es brennt eine Kerze für Alfred Tokayer. In einer Kirche in Köthen, aus gutem Grund. Denn in der kleinen Stadt in Anhalt kam der Komponist, Pianist und Dirigent zur Welt. Im Jahr 1900, am Geburtstag von Bach, der an jedem 21. März auch in Köthen gefeiert wird: mit einem Bläserständchen am Bachdenkmal an der Wallstraße und in St. Agnus mit einem Konzert.

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Die Kirche, wo Johann Sebastian Bach (1685–1750) in seiner Zeit als Kapellmeister am Hof des Fürsten Leopold zum Gottesdienst, zu Abendmahl und Beichte ging, ist der Ankerpunkt der Geburtstagskonzerte, mit denen die Köthener Bachfesttage dem Musikergenie gratulieren. Das Gotteshaus atme den Geist Bachs, findet Intendant Folkert Uhde, fasziniert von Bachs Spuren, denen er folgt. Keinesfalls museal, sondern emotional – so will er Bach heute hörbar machen. Mit größtmöglicher Neugier, mit Freude am Experiment, mit einer Lebendigkeit, die zeigt, dass Bach „ein Suchender war, der jeden Impuls aufgegriffen hat“. Beredtes Beispiel: die „Six Concerts Avec plusieurs Instruments“, die von Köthen aus an den Markgrafen von Brandenburg gingen. Die kompositorische Vitalität und die Präsenz eines Mannes um die 30, der sich nach dem Tod seiner ersten Frau (Maria Barbara) noch einmal stürmisch verliebt (in Anna Magdalena), wolle er in seinen Programmen spiegeln, sagt Festivalplaner Uhde.

In diesem Jahr bettete er das Erinnern an Bach mutig ein in „Eine Hommage an Alfred Tokayer“. Drei Tage lang richteten die Bachfesttage gemeinsam mit vielen Partnern einen Spot auf einen Künstler, der als Sohn jüdischer Einwanderer aus Siebenbürgen in Köthen zur Welt kam, die Stadt aber früh schon verließ. Ein Wanderer, zunächst aus freien Stücken. Der in Frankfurt am Main Musik studierte, 1924 Kapellmeister in Bremen wurde, drei Jahre später in Schwerin heiratete, Vater wurde, sich später trennte von seiner Frau. In Berlin arbeitete er an der Volksoper mit Regisseur Max Reinhardt, mit Komponist Theo Mackeben oder der Schauspielerin Käthe Dorsch. Er verstand früh, dass er als Jude in Deutschland keine Zukunft haben würde. Tokayer suchte Heimat andernorts: als Musiker in Frankreich und England, als Fremdenlegionär im Maghreb und zeitweise in Limoges, das vor der Besatzung durch die Deutschen Jüdinnen und Juden Schutz gewährte. Ein Zuhause fand Alfred Tokayer nicht. Fehl schlug die versuchte Flucht. Er wurde deportiert, interniert und transportiert und kam irgendwann nach dem 23. März 1943 im Vernichtungslager Sobibor um.

Tokayers Geschichte zeichneten in Köthen die Schülerinnen und Schüler der AG Jüdisches Leben der Freien Schule Anhalt nach. In St. Jakob, der zentralen Kirche der Stadt, schufen sie mit Texten, Bildern und, natürlich, Musik das Porträt eines Menschen in seiner Zeit. Ihre Erzählung schilderte, was war und wurde und was nie hätte geschehen sollen. Die jungen Stimmen zu hören, die Nachdrücklichkeit zu spüren, mit der sie an Tokayers Haltung, selbst im schlimmsten Falle zu hoffen, festhielten, rührte zutiefst an. Umso mehr als in der ersten Reihe der Kirchenbänke das von Tokayer so geliebte, umkämpfte und gerettete Töchterchen saß, Irène, eine inzwischen 97-jährige Dame, hellwach, im Kreis ihrer Familie. Eine Überlebende, die das Vermächtnis ihres Vaters bewahren konnte. „Köthen hat Alfred wieder ins Leben gerufen“, hatte Irène Curie tags zuvor im Rathaus gesagt, wo sie der Stadt Originalnoten ihres Vaters übergab. Nach einer Feier an den Stolpersteinen für den Musiker und seine Eltern dort, wo einst an der Ecke des Holzmarkts das Schuhhaus Tokayer stand. Drei Kerzen und drei Rosen machten die drei bronzenen Plaketten im Gehwegpflaster sichtbarer noch, vom einen zum anderen Morgen.

Tokayers Musik war wie eine Brücke zwischen St. Jakob und St. Agnus. Denn das herrlich poetische „Une femme a passé“ hatte sowohl im Programm der Jugendlichen als auch im Geburtstagskonzert in der Bachkirche einen zentralen Platz. Die Sängerin Derya Atakan, die vor ein paar Jahren mit der Pianistin Nina Gurol die Lieder von Tokayer aufgenommen hat und diesmal in einem Kurzkonzert mit Dokufilm-Premiere wieder aufführte, sang vom Zauber des flüchtig-schönen Augenblicks – zur Barockharfe. Die Harfenistin Margret Köll hatte „Une femme a passé“ für Klavier und Gesang für ihr Instrument eingerichtet. Ein Geschenk. Spätestens jetzt war auch das Publikum „verknallt in Alfred“, wie Derya Atakan es spontan formuliert hat. Im Konzert hob sie an zu einer schmerzhaft-schmachtenden Vokalise, einer Klage, in der sich Verzagtheit sinnlich verkehrte. Fremd und großartig in einem Konzert, das im Gedenken das Leben feierte, und die Liebe.

Folkert Uhde gibt seinen musikalischen Gästen bewusst ausreichend Raum, eigene Ideen umzusetzen, um aus dem, was gegeben wird, ein größeres Ganzes zu schaffen, ein Konzept, das trägt. Dieses Mal schlägt er einen Bogen in einem Setting, das vom Aufbruch kündet. Der Klang einer sprudelnden Quelle, von Vogelgezwitscher, von Saitenspiel und Flötenton führen in eine atmosphärische Dichte, in der die Arie „Willst du dein Herz mir schenken“ aus dem Notenbuch für Anna Magdalena Bach herrlich funkelt. Die chilenische Sängerin Romina De la Fuente ­Villarroel performt im Dialog mit Margret Köll. Singt Bach, aber auch Violeta Parras berühmte Hymne an das Leben, „Gracias a la Vida“. Schnell wird deutlich, wie sehr die Beteiligten miteinander im Kontakt sind: die Sopranistin, die Harfenistin, Melissa Wedekind vor allem mit Sounds, Hans Fröhlich an Blockflöten und Barockfagott, der Moderator. Jede und jeder gibt etwas von sich preis, macht sich offen für die gemeinsame Erfahrung, und das wirkt. Plötzlich ist da ein Wispern, ein Flüstern von süßer Sehnsucht, schmiegt sich Giulio Caccinis „Amarilli, mia bella“ hinein und Tokayers „versprochenes Glück“. Aufregend ist das, aufwühlend. Wie gut, dass sich am Ende ein Kreis wieder schließt. Der Bach’sche Choral „Der Tag ist hin, die Sonne kehret nieder ...“ glättet manche Woge. Danach gibt es im Hof zwischen Pfarrhaus und Kirche Wein. Bei Kerzenschein kommen Menschen ins Gespräch, knüpfen am Erlebten an, setzen vielleicht etwas fort, bringen Weiteres auf den Weg, kommunizieren.

Folkert Uhde arbeitet als Intendant der Köthener Bachfesttage nicht als Solitär, sondern bewusst vernetzt in Stadt und Land. Entstaubt hat er das seit 1967 und alle zwei Jahre stattfindende Festival, neu designt die Geburtstagskonzerte für Bach und frisch installiert eine Bach-Akademie, deren „Homebase“ das wiederbelebte Dürerbundhaus am Rande des Schlossparks sein darf. Bach bleibt jung in Köthen. „Seine Musik hat die seltsame Kraft, jederzeit und immer resonanzfähig zu sein“, sagt Uhde. „Alle Musiker auf der Welt sind gleichermaßen von Bach inspiriert.“ Im Hier und Jetzt wie Gratulantin Romina De la Fuente Villarroel, die genau dort lernen, arbeiten, sein wollte, wo Bach lebte, und im Vergangenen wie bei Alfred Tokayer („er hat Bach verehrt“). Ohne dessen Musik mag womöglich künftig kein Bach-Geburtstag in Köthen mehr auskommen. Denn das Ausrufezeichen, das dieses Mal am Frühlingsanfang gesetzt wurde, ist stark: Hoffnung soll leben. L’chaim!

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