Während die Musikmustermesse Donaueschinger Musiktage als reines Uraufführungsfestival agiert, liefert Münchens Musica viva schon auch gemeinschaftlich in Auftrag gegebene erste Werkbegegnungen mit der Öffentlichkeit. Aber eben auch – der Chronistenaufgabe folgend – Aufführungen im Nachspielmodus. So jetzt wieder geschehen. Und damit den normalen Konzertregularien konform.
Kommt freilich die legendäre Musica viva des Bayerischen Rundfunks mit einem zusätzlichen Late Night-Konzert um 22.30 Uhr daher, dann erweist sich das wahrlich nicht als Alltagsevent. Solches markiert dann schon Außergewöhnliches am späten Freitagabend gewissermaßen.
Schütz und Scelsi nah der Mitternacht, mit ChorWerk Ruhr unter Florian Helgaths Leitung im kontemplativ eingedimmten Herkulessaal der Münchner Residenz, vom harten Kern der wirklich Musikinteressierten, ihrer echten Liebhaber womöglich, umarmt – der erst prall gefüllte Saal hatte sich doch nach dem regulären ersten Teil des Konzerts mit Haas und Sciarrino erkennbar geleert –: das hatte schon was. Das war wahrhaft kontemplativ. Unvergleichliche Musikalische Exequien (1635/36) eines unvergleichlichen Heinrich Schütz auf unvergleichliche Weise vom wahrhaft unvergleichlichen Ensemble Chor-Werk Ruhr zelebriert, das war jenseits aller Alltäglichkeit. Das packe, in der packenden Verschränkung mit Giacinto Scelsis (1905-1988) Tre canti sacri (1958). Da packte sich Emotion zusammen mit Intellekt in ein bewegendes Sehnsuchtsszenario von der Utopie des Verschmelzens von Religion, Menschlichkeit, Philosophie.
Ebenso nachdenklich hatte das Musikereignis vor vollem Haus begonnen, mit Salvatore Sciarrinos (*1947) Un´imagine di Arpocrate für Klavier und Orchester mit Chor (1974-1979) auf Textfragmente aus Goethes Faust und aus dem Tractatus logico philosophicus von Ludwig Wittgenstein, Worte, die im Raum, unortbar, verklingen, eingewoben ins raffinierte Klangnetz des Orchesters, kontinuierlich umgarnt vom nicht genauer lokalisierbaren dumpfen Dauergeräusch des Schlagwerks. Dem (vor der Fertigstellung des Werks verstorbenen) Pianistenfreund Dino Ciani gewidmet, wurde das Opus 1979 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage von Massimiliano Damerini und dem SWR Sinfonieorchester samt Vokalisten unter der Leitung von Ernest Bour uraufgeführt. Die ewig in sich kreisende Bewegung dieser Musik steht stellvertretend fürs ewige Werden (und Vergehen). Das Klavier artikuliert sich mit auf-und-abschwellenden brillanten Einwürfen. Wäre der Aufführung mehr Zeit noch – qua Partitur – vergönnt gewesen, hätte der Transformationsprozess ins Ewige hinüber vor Ort fast schon vollzogen werden können, zur Begegnung mit dem Titelsetzenden ägyptisch-hellenischen Kindgott Harpokrates. Die vor Zeiten dreizehn-jährige Pianistin Tamara Stefanowich war die jüngste Studentin an der Universität Belgrad. Sie zählt heute rechtens zum Führungszirkel der Klavierspieler – was sie im Herkulessal unüberhörbar bewiesen hat.
In einem anderen Ton-und-Klangreich bewegt sich Georg Friedrich Haas (*1953). Sein Concerto grosso Nummer eins für vier Alphörner und großes Orchester aus dem Jahr 2014 kommt schon auch esoterisch daher, von der Anmutung aus gehört – bleibt aber angesichts der Auftraggeber (BR-musica-viva, Wien Modern, Tonhalle Zürich, Los Angeles Philharmonic Association) durchaus geerdet – wenn auch im Spektrum der Naturtonreihen eines jeweils einzigen Grundtons der mehrschichtig agierenden Alphörner (außergewöhnlich das hornroh modern alphorn quartet). Das riesige Spitzenorchester agiert gewohnt und erwartbar überprofessionell, gut gelaunt und sichtlich motiviert von der wundervollen, präzisen, inspirierenden, schnörkelfrei und geradlinig agierenden Susanna Mälkki. Die sollte deutlich öfter beim Bayerischen Rundfunk dirigieren! Ein facettenreicher, ein toller Freitagabend in den Fittichen der Musik – der von heute und der von vorgestern, traumhaft verbunden im Anspruch an gehoben komponierte Qualität, traumhaft und traumhaft sicher realisiert von Musikern der Spitzenklasse.