Heiner Müller stellte für unsere Zeit fest, dass die „Geschichte ein Schlachthaus“ sei. Thomas Hobbes urteilte im 17.Jahrhundert, dass „der Mensch des Menschen Wolf“ sei. Berthold Goldschmidt (1903-1996) musste vor dem Terror des Nationalsozialismus nach England fliehen. Dort komponierte er das Schicksal der Beatrice Cenci, die 1599 zusammen mit ihrer Mutter wegen Vatermord hingerichtet wurde.
Die Päpste des 16.Jahrhunderts und ihr Kirchenstaat-Regime sind „heil-los“ korrupt. Kardinäle und Priester brechen ihre Gelübde. Adelige Renaissance-Menschen wie der Graf Francesco Cenci leben grenzenlos enthemmt ihre Wünsche aus. In dieser Welt wächst Tochter Beatrice Cenci auf, erlebt ständige Angst und Demütigungen, die Ermordung ihrer beiden Brüder und dann auch noch Vergewaltigung durch den Vater. Zusammen mit ihrer gleichfalls gedemütigten Stiefmutter lässt die 22jährige den Vater schließlich ermorden. Beide werden angeklagt, gefoltert und gestehen. Der Papst als oberster Gerichtsherr lehnt alle Gnadengesuche ab und betet für ihre Seelen, als beide Frauen öffentlich enthauptet werden.
Berthold Goldschmidt wollte aus dem historischen Fall keinen bluttriefenden, veristischen Opernreißer im Gefolge von Mascagni oder Puccini machen. Seine bis auf kleine Ausbrüche tonale Musik spricht in den Einleitungen der drei Akte und speziell in den Zwischenspielen vom hilflosen Leid inmitten von Unrecht und Gewalt – „mein Geschick war dunkel“ singt Beatrice - da grüßt der große Mahlersche Schmerzenston und immer wieder die Klage über das vom Menschen verursachte Elend. Dann nimmt sich das Orchester eher ins Leise zurück und gibt den Singstimmen Raum, die nie extrem geführt sind. Selbst in den sich arios erhebenden Soloszenen Beatrices gibt es nicht den furiosen Ausbruch, zu hören ist eher quälerisch bemühtes Aufbäumen inmitten von Hoffnungslosigkeit.
Dramaturgisch folgerichtig verweigert Goldschmidt auch eine finale Hinrichtungsszene, nur ein Schrei des zwischen Mitleid und schaulustiger Rachsucht geteilten Chors und ferne Requiem-Klänge beenden den düsteren Blick aufs wölfische Menschenleben. Diesen leisen Pessimismus traf Dirigent Johannes Debus mit dem Philharmonischen Chor und den Wiener Symphonikern genau. Leider nur blieben die zentralen Männerstimmen eher blass: der zwischen seinem Begehren Beatrices und seinem Priestergelübde neurotisch zerrissene Orsino (Michael Laurenz) verstrahlte keine ölige Intriganz; dem Bass des zwischen Seelsorge für beide Frauen, Lebensgenuss auf Cencis Festen und eigenen Papst-Träumen schwankenden Kardinal Camillo (Per Bach Nissen) wäre mehr selbstgefälliges Orgeln zu wünschen; vor allem aber gelang Bariton Christoph Pohl kein gleißnerisch glänzendes, vor Testosteron strotzendes und gewaltverliebtes Porträt des Renaissance-Menschen Cenci. Über gute Nebenrollenstimmen wie Peter Marshs Richter hinaus besaßen nur Christina Bock in der Hosenrolle von Beatrices jungem Bruder, Dshamilja Kaiser als Stiefmutter Lucrezia und Gal James als im leisen Leid eindringliche Beatrice Festspielformat.
Regisseur Johannes Erath und seine Ausstatterinnen Katrin Connan (Bühne) und Katharina Tasch (Kostüme) waren sich einig darin, keinen historisierenden Renaissance-Thriller zu inszenieren. Sie griffen „Tondo“, das Renaissance-typische Rundbild, auf und reihen drei oder vier Tondi perspektivisch hintereinander: für einen aus dem klassisch absurden Theater herauswachsenden surrealen Alptraum; zu mehrfach genutzten Gebetsstühlen kontrastieren hereingeschobene und irre kreisende Tische, deren gläserne Unterbauten mit Geld, Gold oder toten Körpern gefüllt sind; alle tragen Maskenball-artig entstellende weltliche wie kirchliche Renaissance-Kostüm-Zitate, die sich bei Cencis gespenstischem Selbstporträt ins Glitzerjackett eines Showstars vor Mikrofon wandeln können; Goldkelch, Pistolen und Glockenseile werden genutzt…
Und dann bietet das Produktionsteam zu viel und zu vielerlei: Projektionen auf Vorhang und Tondi-Rahmen vom lauschenden Ohr über aktuelle Zerstörungshorrorbilder zu Gefängnismauer oder einer Mischung aus Schraubengewinde oder HR-Giger-Horror samt Petersplatz von Heute und am Ende davongehende Schwarz-Weiß-Silhouetten – das kann man als alptraumhafte Bilderflut im Bewusstseinsstrom akzeptieren oder divertierend statt konzentrierend finden. Einhelliger Beifall des teils beeindruckten, teils überforderten Premierenpublikums. Was ein künstlerisch aufragendes Mahnmal gegen Unrecht sein sollte, lief Gefahr zum zeitgenössischen Bilder-Aktionismus auszuarten.