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Als Komponist muss sich jeder selbst erfinden

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Der erste Meisterkurs Orchesterkomposition beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
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Bei den Frankfurter Römerberg-Gesprächen im Jahre 1985 begann der Komponist und Dirigent Manfred Trojahn seine Rede mit der provokant formulierten These, Komposition sei die überflüssigste aller Künste, um dann mittels einer dialektischen Volte zu konstatieren, Komposition sei die wichtigste aller Künste. Deshalb hat Trojahn auch nie aufgegeben. Dafür liegt ihm das Metier zu sehr am Herzen. Auch deshalb hatte er die Aufgabe übernommen, den ersten „Meisterkurs Orchesterkomposition – Orchesterwerkstatt für junge Komponisten“ mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart im Funkstudio Berg des SWR Stuttgart zu leiten (30. Oktober bis 3. November). Es sollte sich zeigen, dass diese Pionieraktion in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist, gibt sie doch Auskunft über den Status quo der Ausbildung von Komponisten an deutschen Hochschulen und die offenbar darin befindlichen Leerstellen. Gehen wir also in medias res.

An diesem zweiten der vier Kurstage sitzt Lars Werdenberg als erster auf dem heißen Stuhl vor dem Orchester. Trojahn lässt Werdenbergs Stück mit dem schlichten Titel „Orchesterskizze“ wohlwollende Gnadenlosigkeit widerfahren. Anmerkungen zu Instrumentationsfehlern wie „Sie merken, ein Kontrafagott ist keine Piccoloflöte“ sind noch das Wenigste, was sich Werdenberg anhören muss. Fazit Trojahns nach einer Stunde harter Arbeit: „ Sie sehen, wir haben 80 Prozent unserer Zeit nur für die Lesarbeit gebraucht. Unter normalen Probenbedingungen wäre das die Hölle.“

Europaweit kämpfen derzeit etwa 50.000 Komponisten und Komponistinnen um öffentliche Anerkennung in Sachen zeitgenössische Musik. Die meisten hangeln sich in jungen Jahren von Wettbewerb zu Arbeitsstipendium und von dort wieder zu einem Kompositionsauftrag. Neues kommt dennoch in erstaunlicher Menge zustande. Weltweit werden alljährlich bei den Urheberrechtsgesellschaften rund eine Million neuer Titel registriert. In einem Essay mit dem Titel „Komponieren im Disneyland. Das Schicksal der Kunstmusik im Medienzeitalter“ (1998) kam Konrad Boehmer, Komponist und Professor für Musikgeschichte sowie Theorie der Neuen Musik, deshalb zu dem verzweifelt ironischen Befund, dass es in der musikalischen Makroökonomie möglich sei, „das welterschütternde Stück für Blockflöte und Klavier eines litauischen, das humanistisch-atheistische Weihnachtslied eines norwegischen Komponisten oder die ergreifende elektronische Etüde eines österreichischen Hochschulabsolventen rein technisch zu registrieren“. Doch, so Boehmer, würde es denn die Menschheit bewegen?

Björn Raithel, Jahrgang 1979 und sogar ehemaliger Student von Trojahn, wird im Meisterkurs des RSO als zweiter Kandidat auf dem heißen Stuhl keine zartere Behandlung erfahren. Noch vor dem ersten Ton moniert der Solocellist Rudolf Gleißner bereits das Notenbild: „Das ist alles viel zu klein. Das ist eine Zumutung für einen Musiker.“ Trojahn, in dessen Partitur auch noch die Stimmbezeichnungen beim Kopieren abgeschnitten wurden, kommentiert trocken: „Wir müssen Lupen ausgeben, zu Lasten des Komponisten.“ Trojahn spricht von einem „Schwimmfest“. Raithel, der sein Studium bei Adriana Hölszky abgeschlossen hat, der renommierte Kompositionspreise gewonnen hat, muss sich später, wie die anderen beiden Teilnehmer des Tages auch, Trojahns Kritik anhören, dass eine „klare Handschrift, eine korrekt in Stimmen übertragene Partitur essentiell ist, wenn man als junger Komponist wahrgenommen werden möchte, auch bei Dirigenten, die wenig Zeitgenössisches aufführen wie beispielsweise Daniel Barenboim“.

Dieser Meisterkurs für Orchesterkomposition, der hoffentlich fortgesetzt wird, ist aber nicht nur eine Chance für junge Komponisten. Oft mussten die Musiker des RSO und der Redakteur für Neue Musik des SWR, Hans-Peter Jahn, bei ihren Kompositionsaufträgen erleben, dass der Nachwuchs Phantasie und Individualität bewies, dass ihm aber das Handwerk fehlte. Meist kannte Hans-Peter Jahn eben „nur“ Kammermusikwerke und das Votum des Lehrers für einen Nachwuchskomponisten. Deshalb musste Jahn immer wieder die Erfahrung machen, dass die ersten Orchesterkompositionen nur bisweilen „interessant waren, oft aber auch desaströs“. Also hat man für diesen Meisterkurs das Budget für ein Konzert in der attacca-Reihe des SWR eingesetzt. Etwa 50 Takte eines Stücks sollten Kompositionsstudenten deutscher Hochschulen einreichen. 12 von 29 Skizzen wurden angenommen.

Den Komponisten wurde eine Menge geschenkt, nämlich die Arbeit von Profimusikern. Manfred Trojahn, dieser kritische Optimist, der einmal die meisten Fördermodelle für Komponisten „Makulatur“ bezeichnete, hat sich gegenüber den Kursteilnehmern genauso wie gegenüber seinen eigenen Studenten jeglicher Prognose auf deren Zukunft enthalten. Neben seiner gut gemeinten, absichtlich gnadenlosen Kritik ist nur von ihm zu erfahren, dass „der, der diesen Beruf erträumt, sich in diesem Beruf selbst erfinden muss“.

Die Komponisten, denen die Jury des Wettbewerbs genügend Er-Findungskraft zutraut, stehen inzwischen auch fest. Lorenz Dangel (geb. 1977), Eduardo Moguillansky (geb. 1977) und Lars Werdenberg (geb. 1979) erhielten Kompositionsaufträge des SWR, jeweils in Höhe von 5.000 Euro. Die Werke werden in den kommenden Jahren in der Konzertreihe „attacca – Geistesgegenwart.Musik“ vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR uraufgeführt.

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