Die Musikgeschichte ist voll von Ungerechtigkeiten. Da wäre das Großkapitel „Schwarze Stimmen“, denen Richard Powers zumindest in seinem phänomenalen Jahrhundertroman „Der Klang der Zeit“ ein Denkmal gesetzt hat. Im deutschen Sprachraum gibt es das nur wenig ausgeleuchtete Kapitel „In den NS-Jahren ermordete jüdische Komponisten“ – und das greifen nun ausgerechnet ein innovativer „Tatort“ und das neu benannte „Jewisch Chamber Orchestra Munich“ auf.
„Die Musik stirbt zuletzt“ – der Film-Titel stößt zentrale Einsichten an: erfreulich, dass die damaligen Kulturbarbaren untergegangen sind; entsetzlich, dass die jüdischen Komponisten Erwin Schulhoff, Victor Ullmann, Marcel Tyberg oder Gideon Klein Opfer des NS-Vernichtungspolitik wurden – doch wiederum erfreulich, dass ihre Musik nicht ermordet werden konnte – und auch heutige Attacken überleben wird…
Nicht alle Handlungszüge des am 5.August in der ARD laufenden „Tatorts“ sollen offengelegt werden. Ins Zentrum rückt Regisseur Dani Levy mit zwei Drehbuchkollegen ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte: dem zunehmenden NS-Terror in den 1940er Jahren versuchten wohlhabende deutsche Juden durch hohe Geldzahlungen an Schweizer „Intermediäre“ für Visa, Aufenthaltsgenehmigungen und falsche „arische“ Personaldokumente zu entkommen – ein „Markt“ mit „30% Provision“ für den Intermediär – oder 100%, falls es mit den Papieren nicht schnell genug klappte und die jüdische Familie bereits in eines der Lager deportiert war...; der einstige Intermediär und jetzige Milliardär - !? - „Walter Loving“(großartig der alte Hans Hollmann als selbstgerecht eigensinniger Patriarch) will „alte Schuld“ durch eine weitere grandiose Geste „neuer Scham“ abtragen: durch Sponsoring von musischer Kinder-Erziehung in Israel. Ein großkotziges, sündteures Wohltätigkeitskonzert des von ihm geförderten und dafür eingeladenen argentinischen „Jewish Chamber Orchestra“ im berühmten Luzerner Konzertbau „KKL“ Jean Nouvels wird jedoch zur vielfältigen Abrechnung.
Für das ehemalige jüdische „Orchester Jakobsplatz“, ab jetzt „Jewisch Chamber Orchestra Munich“ und seinen leitenden Dirigenten Daniel Grossmann war die Einladung, den ganzen Konzertteil zu übernehmen, „begeisternd“ und andererseits naheliegend: in der zurückliegenden Saison hatten Grossmann und das Orchester in München 5 Stummfilme orchestral begleitet und waren mit dem Timing von Musik und Film vertraut. Eine interpretatorisch spezielle Herausforderung aber gab es zusätzlich. Levy hat den ersten „Tatort“ im „One-shot“-Verfahren gedreht: also in durchgehenden 88 Minuten ohne Unterbrechung für Schnitte oder Wiederholungen, so dass auch die Musik präzise, fast auf die Sekunde „getimt“ sein musste. Das hat für die vier durchlaufenden Aufzeichnungen – zwei in Schwyzer-Dütsch, zwei in Hochdeutsch – blendend geklappt. Grossmann trat das Dirigentenpult an den Schauspieler Gottfried Breitfuss ab und wies ihn in sachgerechte Gestik zu der natürlich von ihm einstudierten Musik ein; er selbst ist aber – in Anknüpfung an Alfred Hitchcocks Miniauftritte – am Glockenspiel und Xylophon zu sehen. Leider nur sind die Musikszenen auf sehr kurze „Häppchen“ reduziert, wobei ein Erstaufführungsausschnitt erklingt: Marcel Tybergs Symphonie Nr. 2 als ausgegrabenes Fundstück.
Der Film selbst muss Gegenstand einer Fachrezension bleiben. Die Preview fand auf einer großen Kinoleinwand statt; ob die oftmals allzu rasant durch die Räume des KKL hetzende Kamera auch auf dem Fernsehschirm wirkt, stellte sich schon jetzt als Frage. Levy verwendet für den wie unter Kokain agierenden Milliardärssohn außerdem das Mittel der persönlichen Kamera und die Zuschaueransprache. Der thematisch angelockte Musikfreund darf jedenfalls keine Musikfilm-Szenen auf dem Niveau von „Wie im Himmel“ oder gar „Das Konzert“ erwarten. Die ohnehin kurzen musikalischen Häppchen – aus Schulhoffs „Kassandra“, Ullmanns Klavierkonzert oder Gideon Kleins „Partita“ - werden in ihrer Wirkung natürlich auch durch die im Vordergrund stehende Krimi-Handlung um die Gift-Attacken während des Konzerts gemindert. Die sind teilweise so gestaltet, dass man das Coaching des Dirigenten sehr viel mehr den hanebüchen unprofessionell, teils albern gezeigten Schweizer Kommissaren gewünscht hätte. Als Gewinn des Fernsehabends kann bleiben, ein mieses Menschenhandel-Problem der Schweizer Geschichte im Rahmen sogenannter Hochkultur populär vorzuführen – und womöglich Interesse an „Vernichteten Komponisten“ zu wecken – den Besuch im sündteuren KKL können sich wohl nur wenige Musikfreunde leisten.
Tatort Playlist:
Erwin Schulhoff
Kassandra (Arabia Fox) / 2. Symphonie / 4. Satz, Finale Allegro con spirito
Viktor Ullmann
Klavierkonzert No. 2 op. 25 / 1. Satz, Allegro con fuoco
Marcel Tyberg
2. Symphonie f-moll, 1. Satz, Allegro Appassionato
Gideon Klein
Partita für Streichorchester, 2. Satz Variation über ein mährisches Volkslied
Sendetermin: 5. August 2018. 20:15