„La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz, dirigiert von Philippe Jordan, szenisch aufbereitet von Alvis Hermanis an der Opéra Bastille in Paris. Frieder Reininghaus klärt uns über die unselige Rolle des Regisseurs zwischen Theater und Politik auf.
Alvis Hermanis hat sich dieser Tage in Deutschland eine Feuilleton-Schelte zugezogen, weil er die Zusammenarbeit mit dem Thalia-Theater in Hamburg aufkündigte. Er ist mit dessen „Willkommenskultur“ für Bürgerkriegsflüchtlinge nicht einverstanden. Der aus Lettland stammende Regisseur vertritt im Kern dieselbe Position wie die Regierungen in Osteuropa oder die inzwischen offensichtlich mehrheitsfähige Chefin des Front national in Frankreich: Man möge muslimische Flüchtlinge nicht aufnehmen, da von ihnen potentiell terroristische Gefahren ausgehen. Damit – es war eine Frage der Zeit – stellte sich erstmals ein prominenter Theaterschaffender in die wachsende Front der Kräfte, die mit der Hinwendung zu autoritären Nationalstaatskonzepten, Aushebelung demokratischer Grundrechte und gegebenenfalls auch Antisemitismus die Abschottung ihrer teils zwergenhaften Länder betreiben (und damit deren geopolitische und kulturelle Marginalisierung). Während die Debatte köchelte, leitete Hermanis an der Opéra Bastille die Endproben zu „La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz – einem Stück, das von seinem Wortlaut her mit solch garstigen Gegenwartsfragen nichts zu schaffen hat.
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Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen brachte die Nationaloper in Paris die dritte beachtliche Produktion der Saison 2015/16 heraus. Zugangskontrollen wie an Flughäfen. Etwa die Hälfte der Soldaten mit den Maschinenpistolen an der Place de la Bastille scheint maghrebinischer Abstammung. Unter denen, die die künstlerische Arbeit von Alvis Hermanis schützen, dürften nicht wenige Muslime sein.
Die Légende dramatique zu Goethes Faust, ein Episoden-Werk aus den 1840er Jahren, lässt in Ermangelung einer stringenten Handlung der Interpretation weiten Spielraum. Es bedarf, wenn nicht (semi-)konzertant dargeboten wird, dezidiert der szenischen „Deutung“. Insbesondere gilt dies auch für die Erfüllung mehrerer längerer Musikstrecken ohne Text (Ungarischer Marsch, Vor- und Zwischenspiele), für die große Szene der Gnomen und Sylphen, den Höllenritt etc. Das Pariser Corps de ballet erhielt in engem Verbund mit Chor und Extrachor eine Suite von fulminanten Auftritten. Die Choreographin Alla Sigalova ordnete die Zuarbeit für das Regie-Konzept von Hermanis: Vom Stillstehen für das Evaluierungsverfahren einer menschlichen Elite, die den Geist des Dr. Faust ins All zu tragen verspricht, über Ausdruckstanz zu den gedämpft martialischen Klängen aus der ungarischen Ebene bis zu erotischer Szenen-Illustration der Beziehungsanbahnung von Johann Heinrich F. und Marguerite. Die fast ungebrochen „schön“ bewegten schönen Körper leisteten einen stattlichen Anteil beim Zustandekommen von ‚Großer Oper‘. Die will und soll nun einmal ‚magnificent‘ sein. Dass sie es war – nun zum dritten Mal in Folge seit „Moses und Aron“ zum Spielzeitauftakt (gerade und auch bei „Barbe-bleue“ und „La Voix humaine) – erscheint ganz wesentlich als Verdienst von Philippe Jordan.
Philippe Jordan
Der Dirigent prunkt nicht aufdringlich mit dem Schrillen und den Brüchen in der Berlioz-Musik, sondern lässt diese fließen und blühen (ohne allerdings das Inkonsistente des Werks zu ignorieren). Das Nonkonformistische und Exklusive der Partitur, die „Modernität“ der musikalischen Dramaturgie konnten einem jetzt in Paris so selbstverständlich vorkommen wie selten zuvor.
Von Anfang an werden szenisch deutliche Zeichen und Fragezeichen zum Thema des Faustischen heute gesetzt. Hermanis nutzt hierfür Botschaften des schwer behinderten britischen Theoretischen Astrophysikers Stephen Hawking (sie werden immer wieder in Französisch und Englisch eingeblendet): Die Menschheit, vertreten durch positiv selektierte VertreterInnen ihrer besten Kräfte, müsse andere Planeten kolonisieren, um zu überleben. In einer modernen Metall-Glas-Gebäudekonstruktion zeigt sich eine Casting-Show, die hundert vorwiegend junge und schöne Menschen aus Hunderttausenden erwählt (nach den Kriterien wird tunlichst nicht gefragt). Die nationalitätspolitisch und gendertechnisch korrekt zusammengesetzte Hundertschaft der Willigen soll in einer One-way-Mission zum Mars entsandt werden und dort eine erste Kolonie gründen (das Verfahren erinnert an die englischen Bemühungen im späten 16. Jahrhundert, die nach etlichen tödlichen Fehlversuchen dann ab 1607 zu einer europäisch geprägten Besiedlung Virginias führte).
Die dem Werk zusätzlich angediente ‚futuristische‘ Ebene ist ambivalent. Stellt der Regisseur die Weltraummissionsforderungen des NASA-Festredners Hawking als heutige Kapriole des faustischen Erkenntnisdrangs und Willens zur Macht dar? Oder verbreitet er die imperiale Forderung, die erlesensten Exemplare der Spezies Mensch möge sich um des Überlebens willen nach der Erde auch den Weltraum untertan machen, faktisch wie ein neues Evangelium? Schwer zu entscheiden am Ende, an dem statt der auf Erden verurteilten Marguerite der Hawkins-Darsteller auf den Händen des in Raumfahrttechnikermontur aufgebotenen Darstellerkollektivs in den Himmel der christlichen Engel gehoben wird. Von Anfang an und bis zum Ende ist Dominique Mercy als der gesundheitlich schwer beeinträchtigte Hawking im Rollstuhl auf der Bühne – eine schrille ‚Verkörperung‘ des Faustischen und einiger seiner Folgen.
Trikotagenfabrik für Spießer
Ob sich die Buh-Stürme des Pariser Gala-Premierenpublikums gegen die subkutanen Ideologismen der Inszenierung richtete und nicht nur Unmut bekundeten, dass es außer superschönen Bildern auch so etwas wie eine intellektuelle Herausforderung und von Anfang bis Ende einen vielleicht weniger schön anzuschauenden Behinderten gab, ließ sich nicht eruieren. Dabei setzte Hermanis überwiegend doch auf die Karten von Naturschönheit, körperlicher Anmut und Sensibilität, strikte Keuschheit (selbst Adam und Eva werden bei einem Erinnerungsbild an die Schöpfungsgeschichte der Genesis in gediegener Unterwäsche hereingefahren – als hätte Schießer schon im Jahr 3760 vor Christi Geburt zwischen Euphrat und Tigris eine Trikotagenfabrik für Spießer betrieben).
Videos von erlesener Schönheit und mit Bildern zur Faszination der Raketentechnik ergänzen das mehrschichtige Treiben auf jeweils recht eindeutige Art – von der Vegetation des Garten Eden oder einem Klatschmohnfeld bis zu Großaufnahmen nackter Haut, von den neuesten Weltraumgefährten bis zur Käfighaltung von Ratten oder leckeren Paarungsbemühungen von zwei Weinbergschnecken. Da bleibt für das Agieren der singenden Figuren nicht allzu viel Spielraum. Alle drei Protagonisten bringen hervorragendes Stimm-Material mit. Das Organ von Jonas Kaufmann erweist sich als die edelste und erlesenste (fast zu schön für den mit dem Leben hadernden alten Gelehrten!), sehr geschmeidig, dann auch höchst kraftvoll bei der Beglaubigung des Machtmenschen Faust und nachgerade ideal für den kurzzeitig heftig Verliebten. Das berückende hohe Pianissimo erzielt atemberaubende Spannung in der Riesenhalle. Bryn Terfel, der zunächst so freundlich und verständnisvoll wirkt wie ein Großvater in den besten Jahren, entpuppt sich (auch stimmlich) als wahrhaft diabolisch: Terfel ist ein Teufel, wie man ihn sich für dieses Stück nur wünschen kann. Schon etwas übers Alter der unbescholten naiven Gretel hinaus ist Sophie Koch; sie reiht sich mit ihrem Mezzo ins Trio bestens ein (zumal, wenn sie nicht forcieren muss). Die Himmelfahrt wird ihr erspart. War schon Fausti Höllenritt unmittelbar mit einem Raketenstart konnotiert, so erschien nur konsequent, dass die „Damnés et démons“ in der Tiefe nicht anders als die Séraphines auf den höheren Stufen Techniker des Weltraumbahnhofs sind. Auch das Himmlische des Épilogues wird in der insgesamt plausiblen neuen Pariser „Faust“-Inszenierung solide geerdet.
Christliche Religion und absurdes Theater
Wie alle Religion, so existiert auch das Theater durch Behauptung – mit Robert Zollitsch hat einer der klügeren deutschen Erzbischöfe vor nicht allzu langer Zeit auf diese begrenzte Parallelität hingewiesen. Die „Faust“-Stücke des (Musik-)Theaters leben in besonderer Weise vom Behauptungscharakter ihrer Worte – und von Anfang bis Ende berühren sich bei ihnen allemal christliche Religion und absurdes Theater (die Adjektive lassen sich auch vertauschen). Problematisch, wenn nicht abstoßend, mögen die von Alvis Hermanis seiner Inszenierung hinzugefügten Worte Hawkings erscheinen. Womöglich wollte er mit ihnen ebenso provozieren wie mit seiner Absage ans Thalia-Theater, bei der die branchenübliche Profilierungssucht in Hinterhand gesessen haben dürfte. Vielleicht wollte Hermanis eben ein bisschen Mephisto im wirklichen Theaterleben spielen und sich aufspielt als Teil von jener Kraft, die (wie es im „Studierzimmer“ heißt) „stets das Böse will“ – und doch manch Gutes schafft. Vielleicht wird der sensible Lette sogar, wenn er nicht den ganzen Tag im Theater verbringt, durch die Anschauung der Folgen des Rechtspopulismus in Europa auch wieder eines Besseren beraten. „Es irrt der Mensch so lang er strebt“ (Prolog im Himmel).