So richtig Oper wie immer gibt es in Marco Štormans neuer Inszenierung von Richard Wagners letztem Oper „Parsifal“ am Theater Bremen nur im zweiten Akt: wenn der böse Klingsor seine Mädels rumschickt und besonders Kundry im Tüllkleidchen zusetzt, dass sie die Verführung Parsifals zu schaffen habe. Das Orchester sitzt im Graben und die großartige Nadine Lehner scheitert. Im ersten und im dritten Akt ist dann eher so etwas von der neuen Bremer Handschrift zu sehen, die wir seit den Arbeiten Benedikt von Peters kennen: Orchester auf der Bühne, es wird vor- und zurückgefahren, Chor aus dem Off und auf den Rängen, Rolle des Publikums als Erweiterung des Chores: hier werden wir grell beleuchtet und sind somit Teilnehmende an der Abendmahlshandlung der Gralsritter.
Wenn die Zuschauer hereinkommen, sitzt da schon Gurnemanz im Frack und hört sich das Vorspiel an, dazu gesellen sich Kundry im Abendkleid, Amfortas, Titurel und ganz in weiß mit Silberschuhen Klingsor: Gurnemanz rollt die Geschichte auf, ein Bühnenbild gibt es nicht. Langsam wächst das „Oratorium“ in eine Inszenierung: ein riesiger Schwan kommt reingefahren, und der kleine Parsifal taumelt im Tennisdress mit einem roten Jahrmarktsherzchen von oben herab. Dem staunenden Parsifal bleibt der Mund offen stehen, die Gralsritter im Frack umkreisen ihn neugierig, ziehen ihn aus und als Gurnemanz ihn fragt, ob er begreife, was er gesehen – nämlich die Abendmahlsszene – kapiert er wieder nichts. Kann er auch nicht, denn da war gar nichts zu sehen, nur das Orchester nach vorne gefahren. Indem auch Amfortas bis auf die Unterhose ausgezogen und Parsifal eine absurde Rüstung angezogen wird, vom todkranken Titurel ein grelles, sehr gesundes Lachen zu hören ist, offenbart sich der kritische Ansatz Štormans, der im Interview beteuerte hatte, sich zwischen einem verständlichen Wunsch nach Distanz und einem ebenso verständlichen Überwältigsein zu bewegen.
Genau aus diesem eigentlich nicht zu vereinenden Gefühl, ein Gefühl, das er mit vielen Musikfreunden teilt, werden weitere Entscheidungen getroffen: sie zeigen uns die Diszanz ebenso wie das Überwältigtsein. Die Sehnsucht nach Erlösung, die zentral das „Bühnenweihfestspiel“ ausmacht, verführt den Regisseur nicht zur aktuellen Debatte über den fundamentalistischen Vormarsch der Religionen und auch nicht zur Rezeptionsgeschichte der Hitlerverehrung. Die Richtung weisen kleine szenische Veränderungen gegenüber der Partitur: nicht Klingsor schleudert den Speer, der ja über Parsifals Haupt stehen bleiben soll, sondern vier Knaben aus Klingsors Gefolge geben ihn freiwillig an den immer einsamer werdenden Helden. Und nicht Kundry wird – „heftig weinend“ in der Partitur – getauft, sondern die vier Knaben, die sich dann spielerisch das Wasser teilen. Kundry sinkt nicht entseelt und gesühnt zu Boden, sondern sie wird schon vorher nach ihrem „dienen, dienen“, das sie mit zynischem Lachen kommentiert, von den Knaben getötet, also ausgelöscht. Und Parsifal hat am Ende denselben Anzug an wie die Gralsritter, er kann sie gar nicht erlösen, weil er das gruselige Männersystem einfach weiterführt: die große aus dem Off gesungene Klage des Amfortas spricht er stumm mit, bis er mit seinem goldenen Adlerhelm singen darf: „Nur eine Waffe taugt“.
Das ist wohltuend kritisch und lässt der ja tatsächlich überwältigenden Musik ihren Raum und ihre Schönheit. Und die wird von Markus Poschner und den Bremer Philharmonikern mit biegsamen Tempi genial entfaltet: schlank, durchsichtig, voller pianissimo-Töne, wie immer mittelstimmenbetont und in überragender Weise sängerbetont. Die dürfen und müssen hier Belcanto singen. Das meint jenseits aller traditionellen Wagner-Brüllerei die Deutlichkeit der Vokalfarbe, die elastische Konsonantenbildung, sie saubere Intonation und Nuancierungsfähigkeit über Artikulationen. In diesem Sinne von betörender und ergreifender Qualität allen voran Patrick Zielke, dessen Gurnemanz er von der erzählerischen Führungsrolle in die ängstliche Depression führt. Auch Nadine Lehner ist hier gemeint, die unendlich viele Zwischentöne für ihre vielschichtige Rolle fand, und Claudio Otelli, der in seiner ersten „Erbarmen“-Arie schlichtweg Erschütterung auslösen konnte. Aber auch Chris Lysack sang und spielte die Titelrolle gut, sehr gut sogar, wenn er auch nicht das betörende Charisma der anderen drei erreichte. All dies wurde ganz klar ermöglicht durch die Transparenz und Klangschönheit des Orchesters und löste nach fünf Stunden zu Recht anhaltende Ovationen aus.