Nichts ist voraussetzungslos. Auch allen Veränderungen, Brüchen und Neuansätzen zum Trotz, die sich im Laufe der Geschichte ereigneten, wurde in der Musik immer wieder auf Bestehendem aufgebaut – in welcher Weise und mit welcher Absicht und Stoßrichtung auch immer. Insofern ist streng genommen alle Musik „relationale Musik“. Ausdrückliche Bezugnahmen neuer Musik auf, über, aus oder mit anderer Musik hießen bisher Bearbeitung, Zitat, Allusion, Transkription, Variation, Rekomposition, Collage, Dekonstruktion, Interpretation, Cover, Remix … Der portugiesische Schriftsteller und Künstler Pedro Neves Marques bringt nun einen weiteren alten, doch provokant neu gewendeten Begriff ins Spiel.
In seinem von der Akademie der Künste der Welt Köln veröffentlichten Buch „The Forest and The School: Where to sit at the dinner table?“ plädiert er für „Anthropophagie“, also Menschenfresserei. Denn wenn man sich schon Fremdes aneignet, dann gefälligst richtig. Zurück geht die positive Wendung dieser weithin tabuisierten Aneignungsform auf ein von Oswald de Andrade 1928 verfasstes Manifest, das den bei indigenen Völkern südlich der Katarakte des Orinoco früher verbreiteten Kannibalismus als neue Bewegung postulierte. An Traditionen des präkolumbianischen Südamerika anknüpfend versteht sich die Anthropophagie als eine kosmopolitische, ästhetische, sozialkritische und kulturrevolutionäre Bewegung, welche die gleichermaßen ästhetisch wie politisch motivierte Ablehnung der durch die spanischen und portugiesischen Konquistadoren gestützte europäische Dominanzkultur ihrerseits ablehnt, um stattdessen für eine Einverleibung beziehungsweise für das regelrechte „Auffressen“ der Stilrichtungen der ehemaligen Kolonialherren durch die eigenen autochthonen Kulturen zu plädieren. Wie einst beim Verzehr erlegter Feinde soll auf diese Weise die Kraft und Energie der vertilgten Kultur auf die eigene übergehen. Mit Blick auf die mittels militärischer und technologischer Übermacht gnadenlose Tilgung nicht-europäischer Traditionen klingt das nur gerecht, wenn auch etwas unappetitlich, zumal jetzt so nah vor dem Fest der Liebe. Bei allem trotzigen Selbstbewusstsein ist auch die Aussicht auf Erfolg dieses Ansatzes zweifelhaft. Schließlich ist die weltweit vorherrschende westliche Kultur, Popmusik und Lebensart kein Häppchen, sondern ein Brocken, an dem man sich leicht verschlucken kann.
Wie man sich mancherorts kannibalisch gegen die Überfremdung durch Europa zur Wehr setzt, so behauptet sich im alten Kontinent die neue Musik gegen die Übermacht der alten mit demselben anthropophagischen Prinzip: Friss selber, was Dich verschlingt! Beispielsweise dreht Bernhard Lang im jüngsten Stück seiner inzwischen 27-teiligen Werkserie „Monadologien“ erneut einen „Klassiker“ durch seinen digitalen Fleischwolf. Dran glauben mussten schon Bach, Haydn, Mozart, Schubert, Bruckner, Strauss, Puccini, Webern und andere. Diesmal wird Johannes Brahms verdaut, wenn am 15. Januar in der Kölner Philharmonie das Trio Catch die Langschen „Brahms-Variationen“ zur Uraufführung bringt. Sollte der hungrige Kannibal-Komponist mit dem großen Magen nicht offen sagen, was es ist: „Brahms-Phagie“?
Weitere Uraufführungen
- 3.12.: Péter Eötvös, Natasha für Doppeltrichtertrompete, Violine, Klarinette und Klavier, Festival Dialoge Salzburg
- 9.12.: Sergej Maingardt und Farid Naghizadeh, neue Werke für Schlagzeug, Studio Ensemble musikFabrik Köln
- 12.12.: Martin Smolka, Annunciation für Chor und Orchester,
- musica viva, Herkulessaal München, und Ralf Soiron, neues Ensemblewerk, Kunst-Station Sankt Peter Köln
- 15.12.: Nicolaus A. Huber, lʼinframince – extended für Ensemble mit CD- und Video-Zuspielungen, Alte Oper Frankfurt
- 18.12.: Jörg Widmann, Trauermarsch für Klavier und Orchester, Berliner Philharmonie
- 22.12.: Johannes S. Sistermanns/Leo Hofmann, WellenFeldSynthese- und Luftfeldkomposition, Gesellschaft für Kunst und Gestaltung Bonn
- 31.12.: Sven-Ingo Koch, Orgel für vier Akkordeons, Tonhalle Düsseldorf