Mit diesem kryptosakralem Megaprojekt erfüllte sich Christian Filips, der Philologe, Pasolini-Übersetzer und Verfasser einer brillanten Schrift über das Vergessen am Komponisten Adalbert Ritter von Goldschmidt, einen beruflichen Lebenstraum. Goldschmidts Riesenoratorium „Die sieben Todsünden“ – inspiriert von dem gleichnamigen Gemälde Hans Makarts – gelangte in Berlin zur Uraufführung, wurde in Wien vom Bayreuth-Dirigenten Hans Richter vorgestellt und geriet ins Repertoire-Abseits. Filips brachte die durch Corona verhinderte Wiederentdeckung jetzt zum gloriosen Schluss. Er fand in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz für sein mit viel Schauspiel und Bildungsslapstick bereichertes Gesamtkunstwerk die ideale, geistesverwandte Aufführungsstätte. Die beiden Vorstellungen am 29. und 30. November waren ausverkauft und die Anwesenden um eine frenetisch-bizarre Erfahrung in Sachen spätromantisches Oratorium reicher.
Apokalyptisch, lüstern, bizarr: Adalbert von Goldschmidts Oratorium „Die sieben Todsünden“ an der Berliner Volksbühne
Die Frage, warum der Dandy und sehr produktive Komponist Adalbert von Goldschmidt (1848 bis 1906) so restlos vergessen wurde, stellte Filips in seinem konzeptionellen Streifzug durch die Wiener Todsünden vom Börsenkrach über die Secession bis zu den Fatalitäten von Weltkrieg und Antisemitismus nicht. Aber nebenbei erklärte sich durch das Event vieles. Von den vier Partitur-Stunden wurde wahrscheinlich ziemlich viel gestrichen. Trotzdem reichten in der Volksbühnen-Vorstellung als „777“ und „Musikdrama nach Goldschmidt“ zwei und dreiviertel Stunden. Pausenlos! Das ist so lang wie eine Hälfte der Passionsspiele Oberammergau, fast doppelt so lang wie der Salzburger „Jedermann“, viel länger als Wagners erster „Götterdämmerung“-Akt und Berlioz’ „Fausts Verdammnis“.
Mit all den genannten Werken hat die Monstre-Menschheitstragödie Goldschmidts, des Sohns eines jüdischen Bankiers in Wien, zu tun. Aber anders als viele Juden seiner Generation war Goldschmidt ein avancierter Geist, der sich nicht freiwillig von Richard Wagners totalitärer Kunst- und Antisemitismus-Knute knechten ließ. Auch klanglich schwadronierte Goldschmidt viel weiter, hielt sich weder bei Wagner noch Gounod zu lange auf. Goldschmidt nimmt dafür einiges aus Richard Strauss’ Leuchten und fast alles aus Franz Lehárs sirenischen Verlockungen vorweg – über fünfzig Jahre vor „Paganini“ und „Land den Lächelns“!
Erstmals gab es „Die sieben Todsünden“ in den Berliner Reichshallen am 3. Mai 1876, schon damals mit dem Domchor. Es folgte Wien unter Hans Richter, wo die „Todsünden“ am 22. Dezember 1877 statt Brahms’ zweiter Sinfonie in einem Charity-Konzert der Hofoper erklangen. Brahms schmollte.
Eine zerrissene Konstellation: Als der spätere Malerfürst Makart mit seinem auf das Wien der Gegenwart anspielenden Gemälde „Die sieben Todsünden“ Furore machte, war auch Goldschmidt Feuer und Flamme. Für ein Textbuch nach seinen Wünschen köderte Goldschmidt den antisemitischen Erfolgsautoren Robert Hamerling. In der Zusammenart gab es Konflikte, weil Goldschmidt alles ihm nicht Zusagende einfach ohne Musik ließ und Hamerling seinen ungestrichenen Originaltext schließlich autonom publizierte. Wichtig: Nach den mit allem spektakulärem Pomp aufmarschierenden Todsünde-Allegorien von Geiz bis Hoffart erscheint der Ewige Jude, ist hier aber Repräsentant aller Menschen.
Auf der großen Bühne wogen, singen, tanzen und zucken die Massen – der Besetzungszettel umfasst auf zwei Seiten DIN A 4 ein prachtvolles Solistenensemble (in diesem Glanzlichter wie Benjamin Bruns, Arttu Kataja und Sara Gouzy) sowie ein Schauspielensemble, das brillierte und auch ein bisschen chargierte. Das Casting der Kollektive war kein Problem, weil Dirigent Kai-Uwe Jirka bekanntermaßen den Domchor und die Sing-Akademie leitet. Die Chor-Ensembles gestalten ihre großen Auftritte mit hingebungsvoller Kraft, Energie und Brillanz. Die Einsätze sitzen, die Bacchanale – es sind mehrere – fluten. Imponierend auch das Ausstattungswerk von Daniela Zorrozua (physische Deko und Kostüme) mit Adrian Terzic (Video). Was da alles passierte, ist definitiv unbeschreiblich. Godfrey Reggios Film „ Koyaanisqatsi“ prallte auf den überbordenden Stil farbenfroher Grotesken wie von Ulrike Ottingers „Freak Orlando“ oder Peter P. Pachls megaschräge Siegfried-Wagner-Inszenierungen. An Siegfried Wagners Opern konnte man sich bei Goldschmidts „Todsünden“ vielfach erinnert fühlen. Beide kultivierten einen lustvoll anpackenden und vitalen Eklektizismus. Auch bei Goldschmidt findet sich ein vokales Freudenfest nach dem anderen, vor allem für die drei Tenöre – immer sinnenfroh und zu kruden Versen.
Hamerling war stolz auf seine handfeste Textsicherheit, bewegte sich zwischen Poesiealbum-Delikatesse und dem, was ab 1900 „erotische Literatur“ hieß. Goldschmidt praktizierte bei den Episoden der metaphysischen Menschheitsbedrohung ein ab 1870 wieder gern genutztes Mittel: Vorgeblicher Tadel manifestiert sich als musikdramatischer Genuss- und Lustgewinn – ohne Unterschied zwischen Ethik und Eros. In den Vokallinien gibt es also feine Chromatismen, während Goldschmidt bei der ambitionierten Orchestration, bei der an Personalstärke wie für „Elektra“ und „Gurre-Lieder“ träumte, allenfalls flüchtig in Berlioz’ „Instrumentationslehre“ geschaut hatte. Solo- und Chorstimmen werden im Orchester myriadenhaft verdoppelt. Im Satz finden sich sogar manchmal Löcher, welche die beherzt wie üppig aufspielende Kammersymphonie Berlin in der sich als für klassische Musik als gut und minimal grob erweisenden Akustik der Volksbühne nicht schließen konnte. Die Videos sind eine Enzyklopädie des zivilisierten Lebens – vom fernöstlichen Wettschlemmen als Freizeitsport bis zu Praterkarusells, Bombenloopings und globalem Kriegsterror. „Todsünden“ wird – anders wohl kaum auszuhalten – unter Filips’ Ironie-Puderstaub auch Trickdrama mit Videospiel-Appeal, behält aber seinen Ernst. Trotz Figuren wie aus einem Dracula- oder Dandy-Dramolett mit Bildungsglamour. Fast alle Anwesenden ließen sich nur allzu gerne von den suggestiven Simplizitäten in Goldschmidts „Todsünden“ mit Lust, Laune und auch Entsetzen blenden. Der Applaus zischte ab wie eine Rakete, denn „je krasser, desto besser“ (meinten bereits die „Signale für die musikalische Welt“ 1876).
777 / DIE SIEBEN TODSÜNDEN. EIN ALLEGORISCHES MUSIKDRAMA
Adalbert von Goldschmidt
Mit Sophie Rois und der Sing-Akademie zu Berlin
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Fr 29.11.2024/19:00 und Sa 30.11./18:00
Mima Millo (Sopran) – Sara Gouzy (Mezzosopran) – Benjamin Bruns, Yury Makhrov, Christoph Pfaller (Tenor) – Gerrit Illenberger, Arttu Kataja (Bass) – Kammersymphonie Berlin – Sophie Rois, Maximilian Brauer, Susanne Bredehöft, Margarita Breitkreiz, Ariel Nil Levy, Silvia Rieger, Balthazar Gyan Alexis Kuppuswamy (Schauspiel) – Chor der Menschen: Haupt- und Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin, Chor-Solo: Rosa Lüttschwager – Chor der Dämonen: Männer des Staats- und Domchors Berlin – Daniela Zorrozua (Bühne & Kostüm) – Adrian Terzic (Video) – Christian Filips (Regie) Kai-Uwe Jirka (Musikalische Leitung)
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