Zu den meist gespielten Stücken Ödön von Horváths zählt die 1931 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführte und wiederholt verfilmte Satire „Geschichten aus dem Wienerwald“, als eine Reflexion auf Weltwirtschaftskrise und Existenzängste der späten 1920er-Jahre. Der auch „Neli“ genannte Wiener Komponist, Dirigent, Chansonnier und Schauspieler HK Gruber hat sie im Auftrag des scheidenden Bregenzer Festspielintendanten David Pountney vertont. Die Uraufführung im Bregenzer Festspielhaus ließ aber den Gruberschen Biss und abgründigen Humor vermissen. Szenisch wirkte die hochkarätig besetzte Produktion so, als schiele sie nach breiter Akzeptanz.
Als Librettist der neuen Oper firmiert Michael Sturminger, der Ödön von Horváths „Volksstück“ ohne merkliche textliche Veränderungen zur Komposition eingekürzt hat. Da Gruber der Gesangsoper Tribut zollt, erfolgen allerdings zahlreiche Textwiederholungen, so dass die mit 2 Stunden und 20 Minuten angekündigte Aufführungsdauer dann– mit einer Pause und Applaus – doch drei Stunden währte. Insbesondere im ersten Teil, den ersten beiden Akten, stellten sich erhebliche Längen ein. In seinen Stücken verlangt Horváth häufig populäre Musikeinsätze, in „Geschichten aus dem Wienerwald“ neben dem Donauwalzer, Wiener Schrammelmusik und Heurigenlieder, wie das Lied von der Wachau. Angeblich hatte sich der Dramatiker als Komponisten für seine Bühnenmusik Kurt Weill gewünscht. So lag es nahe, den als Interpret Kurt Weill nahestehenden Komponisten HK Gruber für das Opernprojekt zu gewinnen.
Seine Partitur HK zeugt von immenser Könnerschaft, mit enormer Bandbreite von Klangfarben und instrumentalen Effekten, gleichzeitig von einer Transparenz und Luftigkeit, welche die Singstimmen nie zudeckt. Das Problem liegt in der Opernvorlage, denn Horváth, wie es Gruber selbst erkannte, „braucht keinen Komponisten“, zumal dessen „Text ja schon Musik für mich war“ (der Komponist im Bregenzer Programmheft). Die durchkomponierte Oper läuft dem Wunsch des Dichters nach einem Schauspiel mit Musik zuwider. Nachdem sich der Zuhörer knapp zehn Minuten in die neue Oper eingehört hat, findet er seine Erwartungen in schrägen Volkslied-Anklängen und Zitaten bestätigt, das Voraus-Wissen schafft beim Rezipienten Redundanz. Die geschickte, überaus wohlklingende, tonale Mixtur von Elementen Bernsteins, Weills, Eislers und Schrekers, die Nachtclubszene mit einer Jazzcombo (aus Mitgliedern das Jazzorchesters Vorarlberg) oder die Live durch einen Grammophontrichter gesungene Arie „Wie eiskalt ist dies Händchen“ aus Puccinis „La Boheme“, lassen Grubers Novität als eine arg verspätete Zeitoper erscheinen.
Dabei ist Vieles witzig gedacht, ein verstimmtes, auch präpariertes Klavier, Glocken wie Ladentür-Klingeln und ad absurdum perpetierende Replikationen, aber selbst die gewünschte „Destabilisierung“ gerät Gruber allzu gefällig.
Librettist Michael Sturminger bewegt sich als Regisseur in der Ästhetik der 50er Jahre, obgleich die bewegten Großbildprojektionen von donmartin supersets (Renate Martin & Andreas Donhauser) in Reibung zur explizit besungenen Zeit von vor über 100 Jahren ein heutiges Wien zeigen. Der Versuch, in keiner Weise anzuecken, erstreckt sich auch auf die heutigen Kostüme. Der Fleischhauer und sein Gehilfe treten in makelloser weißer Kleidung, wie Oberarzt und Pfleger clean in Erscheinung – ohne auch nur irgendeinen Blutspritzer. Und die Nachtclubszene gerät, trotz blanken Busens der Marianne, biedererer als jede Vorabendserie; darüber hätte sich auch vor einhundert Jahren niemand echauffiert. Wie alles im Bühnennebel begonnen hatte, so endet es auch, als Oscar sich entschließt, Marianne nach dem Tod ihres unehelichen Kindes doch noch zu ehelichen und sie als Beute in die Bühnentiefe davonträgt.
Als Dirigent sorgt der Komponist mit den Wiener Symphonikern, dem Vokalensemble Nova als Chor und den ausgezeichneten Solisten für Stringenz. Die kurzfristig eingesprungene Sopranistin Ilse Eerens gefällt als die durch ihre unbedachte Liebe zu Alfred (Daniel Schmutzhard) auf die „schiefe Bahn“ geratene, nach dem Diebstahl an einem Freier inhaftierte Manianne. Der makellose Jörg Schneider gestaltet den ihr als Bräutigam bestimmten Fleischhauer Oskar, als Angelika Kirchschlager brilliert als etwas zu jugendliche Trafikbesitzerin Valerie. In weiteren Partien rollendeckend der Bariton Markus Butter (Rittmeister und Beichtvater), der Bassbariton David Pizttman-Jennings (Mister), die Tenöre Michael Laurenz, Alexander Kaimbacher und Robert Maszl. Die Stars der Aufführung aber sind Albert Pesendorfer als facettenreicher Vater Mariannes, der Zauberkönig, und Anja Silja, mit einer die kindermordende Kabanicha geradezu replizierenden Großmutter, die selbst auch einige Akkorde auf der Zither spielt.
Weitere Aufführungen: 27.07., 03.08.2014