Nachdem ihm Hausbariton Mikolaj Zalasinski lange genug vom musikdramatischen Reichtum der Oper seines unterschätzten Landsmanns Karol Szymanowski vorgeschwärmt hatte, tat Nürnbergs wagemutiger Intendant Peter Theiler das Richtige: er holte mit dem musikalischen Direktor der Warschauer Oper, mit Jacek Kaspszyk einen zentralen „Könner“ für das Werk und das Singen in polnischer Sprache.
Prompt wurde die musikdramatische Interpretation zum Erlebnis des Abends. Von den zart heranziehenden Chorklängen zu Beginn über die schwelgerische Sinnlichkeit der Gesänge des „Hirten“ und die ekstatischen Ausbrüche an dramatischen Höhepunkten breitete Kaspszyk mit der engagiert aufspielenden Staatsphilharmonie Nürnberg eine herrlich leuchtende, schillernde und immer wieder oszillierende Klangpalette aus. Da huschen impressionistische Klänge à la Debussy heran, da stampfen Rhythmen fast wie bei Strawinsky und dann geht Szymanowski über Wagners „Tristan“-Chromatik noch hinaus und jagt alle in Klangwelten benachbart zu Skrijabins „Poème de l’extase“. Jugend-, Extra- und Opernchor meisterten diese Spannweite. Hans Kittelmann (Ratgeber Edrisi) und Ekaterina Godovanets (Roxane) wurden vom hellen Tenor David Kims („Hirte“) und alle vom herrlich strömenden Bariton Mikolaj Zalasinskis (Roger) überstrahlt. Ihnen gelang ein zu Recht einhellig bejubeltes Plädoyer für Szymanowskis zu Unrecht in der zweiten Repertoirereihe dämmerndes Werk.
Denn es geht in dem 1926 uraufgeführten 90-minütigen Musikdrama auch um Hier und Heute: Im Kostüm des um 1152 längst multikulturellen sizilianischen Königreichs Rogers II. geht es um die klassisch gewordene Problematik zwischen Dionysos und Pentheus/Apoll – also von Rausch und Sinnlichkeit gegenüber Maß und Verstand, um Animismus im Kontrast zu Rationalität, auch um die finale Hinwendung zum „Sonnenlicht“ als Metapher für human-geistige „clarté“. All das wird in einer pretiös prunkenden, metaphorisch schier überquellenden Sprache verhandelt.
Auch da sollte dem heutigen mitdenkenden Musiktheaterfreund klar werden: das ist nur die Kaschierung für den brandaktuellen Kampf zwischen nüchterner Sachlichkeit und allen PR-Verführungen von Mode und Konsum – ja sogar ein Behaupten gegen die Verschleierung durch politische Phraseologie bis hin zu den ersatzreligiösen Verbrämungen finanzpolitischer Ausbeutung.
So konkret ließe sich also das Werk inszenieren. Doch Regisseur Lorenzo Fioroni ist inzwischen so hoch gehypt, dass er seinen Assoziationen inszenatorisch einfach die Zügel schießen lassen darf. Bei offenem Vorhang, lange vor aller Musik wird auf einer vage changierenden Schrägfläche, die Mast-bestücktes Schiffsdeck, Dorfplatz oder Scheinwerfer-umstandener Lagerplatz sein kann, ein Grab ausgehoben (Bühne Paul Zoller). Eine in dörfliches Schwarz gekleidete Trauergemeinde oder auch ein Mafia-Clan beerdigt den verstorbenen Herrscher und der Pfarrer steckt Roger den Regentschaftsring an. Dann kommt ein sich provokant gerierender „Prolo“ oder „Aussteiger“ mit Zottelhaar und Kapuzenpulli, der später auch eine moderne Tarnhose samt „68–Rock hard“-Shirt trägt: es ist der „Hirte“, der eitel selbstgefällig „rumtut“, der mal Geldscheine von zwei Schlägertypen zählen lässt, mal Scheine unter das Volk schmeißt oder Wertgegenstände gegen (Panini?-)Bildchen tauscht – fern jeder „Aussage“. Dass nicht wie im Werk nur die Frauen, sondern alles Volk sich zu Kapuzenträgern wandelt, auch mal wie „Mare Nostrum“-Flüchtlinge herumlungert, Mövenschreie und Brandungsgeräusche wallen, im Hintergrund ein handwerklich hilfloses Video von „Küste“, später von „Überfülltes Flüchtlingsboot“ flimmert und auf den Zwischenvorhang kurze Texte von Auswanderern projiziert wurden – da ist alle Flüchtlingsproblematik als moralisch unangreifbare „Aussage“ missbraucht und das Ganze nur eine theaterhandwerklich wirre Reihung.
Gegen Ende versucht Fioroni einen apokalyptischen Zusammenbruch der Szenerie, in der Zivilisationsmüll auf die ohnehin zugemüllte Bühne regnet; Roger erklimmt in Unterhose einen umgestürzten Mast, um sich dem Sonnenlicht zu überantworten – da dachte der selbst innovationsfreudige Theaterfreund nicht mehr an „Buh“, sondern nur daran, wie man wohl den „Tatortreiniger“ Bjarne Mädel herbeirufen könnte …