Am vorvergangenen Wochenende, 28.01.2023 hatte an der Komischen Oper Berlin Jerry Hermans und Harvey Fiersteins Musical „La Cage aux Folles“ Premiere. Ex-Intendant Barrie Kosky knüpft an Helmut Baumanns Deutsche Erstaufführung an, die 1985 im Theater des Westens herauskam, dessen Intendant Baumann war. Er selbst hat damals das Stück inszeniert und auch und die Zaza gespielt. Eine legendäre Aufführung und eine Steilvorlage für die Produktion in der Komischen Oper. Kosky hat nun das Stück, zum ersten Mal – und zum ersten Mal als Nichtintendant der Komischen Oper – inszeniert. Seine pompöse, vitale Inszenierung darf daher ein doppeltes Fest – der Erinnerung und der neuerlichen Vergegenwärtigung – genannt werden. Es wurde zum umjubelten Publikumserfolg.
Helmut Baumann hatte in dieser saalsprengenden Aufführung sogar einen Auftritt in der Rolle der Jacqueline. Der Saal tobte. Es war als Hommage an den großen Schauspieler, Sänger und Intendanten gedacht. Für Barrie Kosky war diese Inszenierung die Erfüllung eines langgehegten Wunsches, seit er als Teenager die Originalproduktion am Broadway in New York sah.
Das Stück hatte 1983 am Palace Theatre Premiere und wurde sieben Jahre lang ohne Unterbrechung gespielt. Es wurde auch international ein durchschlagender Erfolg und eine Sensation, weil zum ersten Mal ein homosexuelles Männerpaar in eheähnlicher Situation auf der Musicalbühne gezeigt wurde.
Es glich einem Befreiungsschlag vom Broadway bis nach London, Paris, Wien und Berlin und läutete den Siegeszug eines Musicals ein, das alle aufatmen lässt, die sich ein Leben jenseits kleinkarierter Konventionen wünschen. Ein Plädoyer dafür, den eigenen Gefühlen zu trauen, sich nicht zu verstellen und so die Welt zu einem bunteren, schöneren und lebenswerteren Ort zu machen.
Kosky bekennt: „Ich sah diese…fantastischen Fantasiewelt von Transvestiten, Farben und einem Musical konfrontiert, in dem zwei schwule Männer die Hauptrolle spielten. Ein Paar, das sich küsst, lacht, dessen Beziehung im Mittelpunkt steht. Wenn man ein gutes Broadway-Musical sieht, dann ist das wie ein guter Wagner mit den besten deutschen Sängern in Bayreuth. Es kann nicht besser sein. Ich war hin und weg.“
Das Musical, das auf dem Sprechstück „Ein Käfig voller Narren“ von Jean Poiret basiert, ist ein Stück weit Dokument der queeren Community. Nach den Kämpfen der Schwulenbewegung und der sexuellen Revolution in den Sechziger- und Siebzigerjahren zelebriert es den Stolz auf schwule Identität. „Doch dann kam Aids. Bang! Und „La Cage“ wurde zu einem Stück über das Überleben. Als dann immer mehr Menschen starben, wurde es zusammen mit seiner Hymne „I am what I am“ zu einem Denkmal.“ (Kosky).
Nun hatte vor guten vierzig Jahren das Thema der Geschlechtergrenzen, der schwulen Selbstbehauptung, des Aufbrechens aus engstirnig bürgerlichen Moralvorstellungen noch eine andere Brisanz. Schon der Film mit Michel Serrault und Ugo Tognazzi im Kino war eine Sensation,
Damals mischten Drag Queens die sich langsam emanzipierende schwule Szene mächtig auf. Bei diesen Diven (ob man nun eine Affinität zu Travestie hat oder nicht) fühlte man sich endlich frei vom Schmutz der herrschenden Doppelmoral. „La Cage aux Folles“ vermittelte dieses befreiende Gefühl, daher fand das Musical von Jerry Herman so breite Resonanz.
Heute ist die Welt eine andere. Die Homosexuellen sind genauso bürgerlich geworden wie die Heterosexuellen, sie können heiraten und den Schutz der Ehe genießen. Es hat sich ausgekämpft, so scheint es, doch die traurige Realität belehrt einen tagtäglich mit Tatsachen, die die Aufführung des Stücks rechtfertigen. Das Stück wirkt altmodisch, hat aber als aufklärerische Parabel nach wie vor seine Aktualität.
Die Handlung: Georges betreibt äußerst erfolgreich den Nachtclub La Cage aux Folles. Absoluter Star ist sein Lebensgefährte, die Dragqueen Zaza alias Albin. Abgesehen von Zazas launischen Capricen läuft es gut im Club, bis eines Tages Jean-Michel, Georges Sohn aus einer früheren heterosexuellen Beziehung, auftaucht. Jean-Michel liebt nicht nur seine „Eltern“, die ihn aufzogen, besonders liebt er Anne. Der Vater der Verlobten, ein erzkonservativer Politiker und gestrenger Sittenwächter, möchte die Eltern des zukünftigen Schwiegersohnes kennenlernen. Georges muss daher auf die Schnelle ein bürgerlich-konservatives Umfeld für den Besuch schaffen. Die Phallomanie der Wohnung hat einem klösterlichen Ambiente mit übergroßem Kreuz zu weichen. Aber noch ein Problem muss gelöst werden: Eine Mutter muss her. Albin tritt als Jean-Michels Mutter auf und kann zunächst auch das Vertrauen von Annes Eltern gewinnen. Als diese jedoch aufgrund einer Unachtsamkeit Albins die Wahrheit erkennen, ist vor allem Annes Vater empört und will die geplante Hochzeit platzen lassen. Als er im Restaurant Jacquelines plötzlich von Papparazzi bedrängt wird und er um seien Zukunft als Politiker bangt, willigt er in die Hochzeit ein, wenn man ihm nur helfe, unerkannt aus dem Nachtclub zu kommen. Und so wird er selbst in einen Fummel gesteckt und zur schrillsten Dragqueen gemummt, die allerdings, anders als im Film, nicht unerkannt aus dem Lokal geschafft wird, sondern nur im Finale mittanzt. Es darf gelacht werden.
Und doch ist die heutige Wirklichkeit nicht zum Lachen. Immer noch werden queere Personen angepöbelt und verprügelt. 50 Prozent aller Schwulen, so belegen Statistiken, sind in der Schule gehänselt oder gemobbt worden. Transsexuelle haben es nach wie vor sehr schwer. Und noch immer bringen sich Menschen um, weil ihnen ihre Umgebung vorschreiben will, wer sie zu sein haben. Nicht zu reden von den patriarchalen Kulturen des Nordafrikas, des Nahen Ostens einschließlich der Türkei und Griechenlands, die durch die Bank homophob sind (obwohl eben dort seit Jahrtausenden homosexuelle Handlungen Tradition haben, freilich im Verborgenen, man spricht nicht darüber).
Ganz zu schweigen von Russland, dort kämpft Putin nach eigenen Worten einen Krieg gegen Schwulenparaden und offen gelebte Homosexualität, kämpft für „traditionelle Familienwerte“. Er hat deshalb einschlägige Gesetze verschärft, Regenbogensymbole als Schande bezeichnet, und was noch.
Es böte sich an, diese aktuellen Bezüge auf der Bühne zu zeigen. Doch die Komische Oper hat sich gegen eine derartige Aktualisierung entschieden und spielt das Musical so, wie es ist, in der deutschen Textfassung von Martin G. Berger, die allerdings vor plumpen Witzchen, Kalauern und Anspielungen nicht zurückscheut. Aber gerade die geraten zur großen Gaudi des Publikums, das mitklatscht und begeistert grölt und sich freut: Berlin wie es singt und lacht!
Ausstatter Rufus Didwiszus (Bühne) und Klaus Bruns (Kostüme) weigern sich auch optisch, eine gegenwärtige Welt rechtsextremer Politiker und vermeintlicher Saubermänner zu zeigen, sie könnten ja beispielsweise wie Putin, Trump, Erdogan oder Viktor Orban auftreten lassen. Nein, stattdessen wird ein Macho im blauen Businessanzug vorgeführt, so harmlos wie die bunte Welt des Showbiz, die auf der Bühne der Komischen Oper gezeigt wird: grelle, florale und rotsamtene Vorhänge gehen rauf und runter und lassen Raum für die zentralen Tanzszenen. Es gibt ein Café unterm Sternenhimmel und verfremdete Flamingo- und Palmen-Illustrationen als Riviera-Impressionen. Ein gemalter Hänger mit Türen vermittelt Backstage-Atmosphäre, riesige Phalloi, auch als Sofas, vor pornografischer Tom-of-Finland-Tapete bebildern das Appartement von George und Albin (Zaza).
Die Sensation der Produktion sind die atemberaubenden Kostüme von Klaus Bruns (changierend zwischen rosa Wattebäuschchen, Paradiesvögeln, schrillen Revuekreationen und goldenen Barock-Kostümen. Das Highlight ist Zazas atemberaubend glitzerndes Renaissancekostüm à la Tudorkönigin). Aber auch die fulminanten Choreographien von Otto Pichler beeindrucken, die singende Tanztruppe ist fabelhaft präzise, synchron, queer und schräg. Etwas zu schräg vielleicht?
Dennoch, der Abend ist eine vom Publikum gefeierte Selbstfeier der queeren Szene, die natürlich einen Großteil des Publikums bildete, teils in auffälliger Kostümierung, teils „ganz normal“, eine grandiose Show mit Revueanleihen und ungenierten Übertreibungen und Stereotypen des Tuntentheaters. Es darf chargiert werden, dass die Bühnenbretter knarren. Barrie Kosky gibt dem Affen reichlich Zucker. Koen Schoots am Pult des Orchesters der Komischen Oper gibt mächtig Gas. Dank Mikroports und elektroakustischer Verstärkung ist die Phonstärke an der Grenze des Erträglichen, und das bei einer Musik, die allenfalls gutem, will sagen konventionellem, bravem, alles andere als aufregendem Broadway-Standard der Achtzigerjahre entspricht. Auch die Songs von Musical-Altmeister Jerry Herman bewegen sich zwischen Party und Rührseligkeit. Eine Ausnahme bildet der Song „I am what I am“, der zu einer Ikone der Schwulenbefreiung weltweit wurde. Nicht zuletzt durch Shirley Bassey erhielt der Song, der das Outing eines schwulen Mannes meint und um Respekt und Anerkennung wirbt, Kultstatus.
Darstellerisch und sängerisch ist die Produktion in besten Händen. Eine durch die Bank überzeugende Ensembleleistung. Um nur die wichtigsten Darsteller zu nennen: Stefan Kurt („Tatort“-bekannter Schweizer Fernsehschauspieler) ist virtuos als Albin/Zaza. Er vermittelt Drag-Queen Befindlichkeit: Altersdepression und Bühnenheiterkeit, Verzicktheit, Divenweisheit, Emotionalität und Eleganz. Bewundernswert der 83-jährige Helmut Baumann, der souverän als Jacqueline durchs Lokal stöckelt. Peter Renz (der bewundernswerte dienstälteste Tenor des Hauses) als Partner Albins gibt den Georges als pflichtbewussten, Nachtclubbetreiber („ich bin ein ganz normaler Schwuler), den nichts aus der Ruhe bringt. Die hysterische Kammerzofe Jacob wird von Daniel Daniela Ojeda Yrueta akrobatisch überdreht gegeben. Etwas weniger wäre mehr gewesen. Dennoch ein Triumpf für die Komische Oper, diese Aufführung.