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Das Ensemble Musikfabrik war mit Isabel Mundrys Komposition „Schwankende Zeit“ zu Gast. Foto: Frederike Wetzels
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Atlantikbrücken zu den vielen Amerikas

Untertitel
Das Musikfest Berlin mit Werken von Charles Ives, Alberto Ginastera, Heitor Villa-Lobos und Edgard Varèse
Vorspann / Teaser

Mit dem Titel „Amériques“ zitierte das diesjährige Musikfest Berlin das gleichnamige Werk von Edgard Varèse, das dieser 1918 nach seiner Ankunft in New York konzipiert hatte. Schon 2012, als sich das Musikfest dem Thema USA widmete, hatte diese großbesetzte Komposition eine zentrale Rolle gespielt. 

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Dabei hatte Varèse den Titel nicht in erster Linie geografisch verstanden, sondern „mehr als Symbol für Entdeckungen neuer Welten auf der Erde, am Himmel oder im menschlichen Geiste“. Jetzt interessierte Winrich Hopp, den künstlerischen Leiter des Musikfests, der Plural der „vielen Amerikas“ von Nord-, Mittel- und Südamerika. So begannen die diesjährigen Konzerte mit dem São Paulo Symphony Orchestra, das sein 70-jähriges Jubiläum mit einem fulminanten Amerika-Programm feierte. Unter Leitung des Schweizers Thierry Fischer begann es mit „Central Park in the Dark“ von Charles Ives und widmete sich dann den zwei wichtigsten Komponisten Südamerikas: dem Argentinier Alberto Ginastera und dem Brasilianer Heitor Villa-Lobos. Ginasteras dreisätziges Violinkonzert (1963) beginnt mit grellen Dissonanzen, von Roman Simovic unbarmherzig kraftvoll vorgetragen, während die viel früher entstandene sinfonische Dichtung „Uirapurú“ des Brasilianers in Thematik und Farb­reichtum an Strawinskys „Feuervogel“ erinnerte. Den Schluss bildete „Amériques“, das 2012 in der Urfassung mit 148 Musikern erklungen war. Aber auch die revidierte Fassung zeigte mit 120 Mitwirkenden die beträchtlichen Leistungsmöglichkeiten dieses Klangkörpers, in dem neben vielen weißen Männern eine Paukistin auffiel. Während heutige Hörer mit Sirenen und schweren Paukenschlägen auch Kriegs­angst assoziieren, waren sie vor 100 Jahren Symbole einer befreiten Klangwelt im Sinne der neuen Ästhetik Ferruccio Busonis. 

Zwar konnte man am Eröffnungstag zu später Stunde noch die São Paulo Big Band hören, welche unterstützt durch die mitreißende Sängerin Paula Limar Rhythmen und Melodien der Música Popular Brasileira in die Jazz-Sphäre übertrug. Der viel größere Teil des Festivalprogramms war jedoch den USA gewidmet. So erlebte man das traditionsreiche Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst mit Musik von John Adams und die aufstrebende, von Matthias Pintscher geleitete Kansas City Symphony mit einem Hauptwerk der amerikanischen Orchestermusik, der selten gespielten 3. Symphonie von Aaron Copland. Die Musiker aus Kansas City boten ebenso George Gershwins 1924 entstandene „Rhapsody in Blue“, die Paul Whiteman schon 1926 nach Berlin brachte. Der Solist Conrad Tao nahm sich mit extremen Tempi und Rubati viel rhapsodische Freiheit, dem Werktitel entsprechend, und begeisterte damit das Publikum. 

Den Schwerpunkt des Amerika-Themas bildete Charles Ives anlässlich seines 150. Geburtstags. Dieser große Einzelgänger wurde erst spät in seiner Bedeutung gewürdigt, eigentlich erst 1974 zu seinem 100. Geburtstag. Ohne Trennung von ernster und unterhaltender Musik griff er Klangelemente seiner Umwelt auf. Das unterscheidet ihn grundsätzlich von Arnold Schönberg, dessen 150. Geburtstag ebenfalls gefeiert wurde. Aus diesem doppelten Anlass konzipierte Stefan Litwin eine „Soirée der Moderne“, die unter dem Motto „Charles Ives meets Arnold Schönberg“ Werke beider Komponisten nebeneinanderstellte. Schönberg hat seinen amerikanischen Kollegen nie getroffen, ihn aber als Nonkonformisten respektiert. Beide Künstler begriffen Musik als eine Botschaft an die Welt. Während der Amerikaner Kriege als Übel des Nationalismus verurteilte, unterstützte Schönberg den 1. Weltkrieg mit Marschrhythmen der Komposition „Die eiserne Brigade“. Dagegen wandte er sich aus dem US-Exil mit der „Ode to Napoleon“ für Streichquartett, Klavier und Sprecher verschlüsselt gegen Hitler. Leider waren die englischen Texte hier und bei den Ives-Liedern kaum zu verstehen, was nicht an den Interpreten, sondern am Fehlen von Textblättern oder Projektionen lag. Ohne dieses Verständnisproblem stellte Pierre-Laurent Aimard das gesamte solis­tische Klavierwerk Schönbergs der gigantischen Concord-Sonate von Ives gegenüber. Schönbergs ausdruckstarke atonalen Werke wirken heute schon klassisch. Bei der zwölftönigen Suite op. 25 aber vermisste man die an die Tonalität gebundenen barocken Tanzcharaktere. Für Ives spielte dagegen die Frage der Tonalität ebenso wenig eine Rolle wie die Ökonomie des musikalischen Materials. In seiner enorm vielfältigen Concord-Sonate blendete er scheinbar unbekümmert um den Kontext immer wieder Lied- und Choralzitate ein. Aimard bewältigte dieses überaus anspruchsvolle Programm mit enormer Souveränität und gro­ßem Farbenreichtum. Ihm folgte im gutbesuchten Kammermusiksaal ein aufmerksames und dankbares Publikum. 

Einen weiteren Höhepunkt des Musikfests stellte die Aufführung der 4. Sinfonie von Ives mit den Berliner Philharmonikern dar. Unterstützt durch einen zweiten Dirigenten koordinierte Jonathan Nott hier die teilweise auf den Emporen der Philharmonie platzierten Klangmassen. Zur Darstellung des Weltgetümmels reihten sich vielfältige Ideen aneinander oder überlagerten sich in mehreren Tempo- und Metrumschichten. Mit der kritisch auf Schönberg bezogenen „Harmonielehre“ brachte einige Tage später das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski mit rhythmischer Präzision und üppiger Klangentfaltung eines der Hauptwerke von John Adams zu Gehör.

Die Alte Welt

Den Gästen der verschiedenen „Amerikas“ standen Auftritte europäischer Orchester und Solisten gegenüber. Diese konzentrierten sich entweder traditionsbewusst auf das Eigene – wie etwa die erstmals in diesem Rahmen gastierenden Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann –,  oder widmeten sich aus eigener Perspektive den USA – wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Rattle mit ungewöhnlichen Hindemith- und Zemlinsky-Stücken oder das Mahler Chamber Orchestra unter Antonello Manacorda mit Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“. 

Wirklich interessante Programme waren an diesen Tagen zu erleben, so die Koppelung von Rihm und Ravel bei der Filarmonica della Scala unter Riccardo Chailly oder das Gegenüber von Wagner und Nono, Diatonik und Mikrotonalität, beim Gustav Mahler Jugendorchester unter Ingo Metzmacher. Angesichts solcher Herausforderungen waren nicht alle Konzerte gut besucht. Restlos ausverkauft war die Philharmonie dagegen beim Gastspiel des Oslo Philharmonic unter dem Senkrechtstarter Klaus Mäkelä. Er bot eine außerordentlich intensive Interpretation der 5. Sinfonie von Schostakowitsch, die in Tempo und Dynamik zu Extremen vorstieß.     

In einem reichen Beziehungsgeflecht von Geburts- und Sterbedaten wurde auch der Jubilare Anton Bruckner und Luigi Nono gedacht. In Erinnerung an den im März verstorbenen Aribert Reimann erklangen neben Vokalmusik, seiner Domäne, gesungen von der Sopranistin Yeree Suh, instrumentale Werke wie seine 7 Bagatellen für Streichquartett, die ein fast schon didaktisches Formbewusstsein zeigten. Ebenfalls im März verschied Peter Eötvös; die Berliner Philharmoniker und Pierre-Laurent Aimard boten sein Klavierkonzert „Cziffra Psodia“, in der Kombination von mathematischem Kalkül und improvisatorischer Freiheit kennzeichnend für diesen wichtigen Komponisten und Dirigenten. Die Filarmonica della Scala widmete sich dem jüngst verstorbenen Wolfgang Rihm. Dessen frühes Orchesterwerk „Dis-Kontur“, deklariert als „Essay über innere und äußere Gewalt“, wirkte trotz der expansiven Lärmentfaltung in der ersten Werkhälfte in seiner schlüssigen Gesamtdramaturgie höchst eindrucksvoll. Erinnert wurde auch an die im Vorjahr verstorbene finnische Komponistin Kaija Saariahodie in ihrem letzten Werk, dem Trompetenkonzert „Hush“, ihren eigenen Tod herbeisehnte. Mit dem ausgezeichneten Solisten Verneri Pohjola und allzu forciert dirigiert von Susanna Mälkki bot die Staatskapelle Berlin dieses mit harten Schlägen Schmerzen beschwörende und um Ruhe bittende Werk. 

Komponistinnen

Zu den weiteren beim Musikfest gespielten Komponistinnen gehörte die in drei Konzerten präsentierte Isabel Mundry. In ihrem Ensemblestück „Schwankende Zeit“ sucht sie, ausgehend von taktfrei notierten Couperin-Stücken, im Nebeneinander von freier und gebundener Metrik sowie von Geschichte und Gegenwart nach der Erfahrung von Zeit; das Ensemble Musikfabrik machte dies klangsinnlich erfahrbar. Ihre Komposition „Invisible“ kam im Kammermusiksaal der Philharmonie als wirkungsvolle Raummusik zur Geltung. Das Cleveland Orchestra bot „Can You See?” der Afroamerikanerin Allison Loggins-Hull, welche nach einer künstlerischen Antwort auf rassistische Gewalt suchte. Ein so gewichtiges Thema kann allerdings in einer Orchesterminiatur von 8 Minuten nur angerissen werden. Auch der konsonante Schluss irritierte, als seien die angesprochenen Probleme schon gelöst. 

In drei Programmen des Ensemble Modern erklangen Werke der Komponistinnen Ruth Crawford Seeger, Johanna Beyer, Tania León und Katherine Balch.  Ruth Crawford Seeger, bislang ein Geheimtipp der Kenner, stand dabei ganz im Zentrum. Diese entdeckungsfreudige Musikerin wurde geprägt durch den Avantgardisten Henry Cowles und den Musiktheoretiker und -forscher Charles Seeger, den sie 1934 heiratete. Wie diese beiden stand sie kommunistischen Ideen nahe, was deutlich wurde an den sozialkritischen Gedichten, die sie 1932 in ihren „Two Ricercare“ vertonte: vehemente Proteste gegen einen Justizmord und gegen die Ausbeutung chinesischer Gastarbeiter.  In den drei Konzerten konnte man die spannende musikalische Entwicklung Ruth Crawford Seegers von romantischen Anfängen zu kühnen Strukturen verfolgen. Leider hat sie ab 1934 ihr Komponieren nahezu eingestellt.

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