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Dirk Rothbrust und Christian Dierstein interagieren mit Metronomen in Yiran Zhaos „Piep“. Fotos: RBB/Simon Detel
Dirk Rothbrust und Christian Dierstein interagieren mit Metronomen in Yiran Zhaos „Piep“. Fotos: RBB/Simon Detel
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Atonale Musik zum Gernhaben, Spielfreude im Orchester

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Ultraschall 2022 – ein Festival mit weitgefächertem Spektrum an Ensembles, Ästhetiken und Komponierenden
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Das Ensemble LUX:NM gestand es freimütig ein – es sucht sich Komponisten für ihre Besetzung, ihren Sound. Trompete, Posaune, Saxophon, Akkordeon, Klavier, Cello, Schlagwerk und Elektronik – die neue Musik dieses Ensembles hat viel mit avanciertem Jazz gemein.

Das ensemble recherche aus Freiburg aber adaptiert sich nicht nur mit Treue, sondern deutlich mit Liebe an die Spiel- und Klangkonzepte aller ihrer Komponisten und -innen und schenkte sich diesmal Yiran Zhao in einem Porträtkonzert, und tatsächlich wurde diese Komponis­tin erkennbar in der Programmfolge.

Das Trio Boulanger spielte atonale Musik zum Gernhaben, das Deutsche Sinfonieorchester Berlin fetzte wild und laut, das Rundfunksinfonieorchester Berlin wühlte in Zweifeln aus verhuschenden, erstickten Klängen.

Ultraschall Berlin, das „festival für neue musik“ hat wieder stattgefunden. Bei gutem Besuch, mit Impfkontrollen, mit Masken – ich hörte kein Murren, fast fühlte es sich wieder normal an, in viele Konzerte hintereinander zu gehen. Die beiden Kuratoren des von den Berliner Kulturradios von RBB und Deutschlandfunk gemeinsam ausgerichteten Festivals wiesen die Vermutung zwar zurück, aber die vom RBB verantworteten Konzerte und jene des DLF-Kultur tendierten in gegensätzliche Richtungen, was sich schon an den beiden ersten Konzerten mit Sinfonieorchestern zeigte.

Laut und wild

Auf Einladung von Andreas Göbel vom RBB dirigierte Jonathan Stockhammer das DSO und das war die muntere, aber konservative Version von Avantgarde, laut, wild, mit gar erschröcklichen Klängen und maßlosen Steigerungen, überwältigender Virtuosität der drei Komponisten bzw. der Komponistin und des Orchesters; und es wurden in freier Manier Klänge reaktiviert, die aus den blutigen Tränen aus einem halben Jahrhundert Expressionismus gezogen worden waren, aber nicht als abstrahierte Erfahrung des Seelischen, sondern eher als Begleitmusiken zu Lichtspielszenen. Die Komponistin Milica Djordjevic hatte ihr Orchesterstück aus Begeisterung über ein YouTube-Video über Gold-Extraktion mit Quecksilber geschrieben und dafür so interessante Mittel wie Vierteltonverstimmung der Streichergruppen untereinander angewandt, die aber nicht etwa für Goldglanz, sondern nur für zähe Superdissonanz taugte.

Letztlich sind das die Nachfolger von Richard Strauss, dessen Klangschilderung vom Kampf mit der Schafherde im „Don Quixote“ Urgestalt dieser späten Schafsmusik ist, dort ein genialer Effekt, hier ein lärmender Abklatsch; schon die schiere Lautstärke (unverstärkt, wie mir von Musikerseite versichert wurde) verhindert eine Art Partnerschaft der Klangerkundung zwischen Spielern und Hörern. Ein Donnerwetter, kunstvoll, aber doch ein Zirkuskrach im Gewand der Hochkultur. Andererseits – denn wer möchte nicht lieber wertschätzen als kritisieren – war die Spielfreude im Orchester offensichtlich, wenn die Dinge im klanglichen Detail wie im formalen Rahmen zu Zauberstücken gelingen.

Die nachdenklichere Variante gegenwärtiger Orchestermusik fand man anderntags beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Bas Wiegers, ein Programm aus drei herausfordernden Stücken, das Rainer Pöllmann vom Deutschlandfunk Kultur zusammengestellt hatte. Christian Winther Christensens Hommage an das Genre Klavierkonzert bettete das durch Präparation fast ganz erstickte Klavier in einen orchestralen Fragenkatalog, und endlich nicht weniger komplex war eine Einladung zum Lauschen, das sich selbst befragende Wühlen im Ausdruck in Sergej Newskis „18 Episodes“, das am Ende in sommerlichen Spielplatzgeräuschen versank.

Die Gelegenheiten für die Komponisten der musikalischen Speerspitze aber, fürs große Orchester zu komponieren, sind rar und es sind zumeist die kleineren, ganz dem Bedarf der Phantasie angemessenen Besetzungen, die zum Medium der Gedanken werden. Ultraschall (eigentlich unhörbar) dieses Festival versammelt vor der weitgehend im Verborgenen blühenden Musik ein größeres Publikum. Es zollt der Kunst und ihren Künstlern und Künstlerinnen Respekt.

Deswegen war es erfreulich, mit zwei Programmen das 35-jährige Bestehen des ensemble recherche zu feiern, mit einer selbstironischen Multimedia-Live-Doku aus der Perspektive des Jahres 2026 über die positive Gentrifizierung zugunsten der Kunst, die das Ensemble mit einem Umzug in die von Wendefolgen gebeutelte Stadt Zeitz im östlichen Burgenlandkreis bewirkt haben könnte. Könnte, denn die Internetrecherche bestätigt dieses Engagement in keiner Weise, es war nur eine Vision. Das ensemble recherche jedoch gehört zu den treuesten Interpreten der Komponisten. Immer wieder konnte man die absolute Hingabe zu musikalischen Konzepten unterschiedlichster Arten erleben. Diesmal war in einem Porträtkonzert die in Berlin lebende Chinesin Yiran Zhao die Nutznießerin dieser Zuwendung. Ihre Musik will gar nicht brillieren, sie bleibt oft ein Spiel der Intelligenz zwischen den Musikern. Wie ein Grundriss ihres Komponierens von Interaktionen erschien „Piep“ (2015) für zwei Elektro-Metronome der Firma Korg, das von den beiden Schlagzeugern des Ensembles, Christian Dierstein und Dirk Rothbrust, vorgeführt wurde: Die beiden warfen einander Tempi zu, ein Dialog in Tempi, aus denen sich sehr sparsame Rhythmusmuster herausschälten. Und da die kleinen Geräte offenbar auch zum Stimmen taugen, mischten sich noch einige Tonfolgen in ihr Spiel. In den auskomponierten Ensemblestücken setzte sich das Spiel von Signalen, die sich zu Patterns fügten, in komplizierterer, gleichwohl übersichtlicher Weise fort. Diese heitere Musik bot einem neuen Lauschen abseits jeden Überwältigtseins Raum. Und das Lauschen, die aktive Teilnahme des Publikums immer neu zu gestalten, ist eine vornehme Aufgabe neuer Musik.

Schwarze Engel

Wie breit aufgestellt das Ultraschall-Festival auch in einer gegenüber seinen Anfangsjahren ab 2000 halbierten Anzahl von Festivaltagen ist, wurde durch die Teilnahme des derzeitigen DAAD-Fellows Zsolt Sörés aus Budapest ins Bewusstsein gebracht, der angesichts seiner zahlreichen Aktivitäten zwischen Performance, Stummfilm und Elektronik zusammenfassend als Klangkonzeptualist bezeichnet werden kann. Sein fast einstündiges „Astro Noise Chiasm“ ist keine ausgefeilte Komposition, sondern ein sich langsam wandelnder Klang. „Dröhnen“ ist das Stichwort. Das klingt mit Absicht schlecht, verzichtet auf jegliche Brillanz, ist purer Grobklang und keine Musik, die sich beliebt machen will. Zsolt Sörés ist ein Noise-Komponist, der den Wandlungen eines Klangs nachhorcht. Er steht aber eher an der Basis der Bewegung, nicht an der hohen Kunst der mikrotonal organisierten reinen Stimmung, die ja auch mit langsamen Wandlungen spielt. Franz Hautzinger lässt seine Trompete über weiteste Strecken nur rauschen, die beiden Cellistinnen, die man sich als schwarze Engel in der Höhe hätte vorstellen können, aber nur brav nebeneinander auf der Bühne saßen, steuerten übers ganze Stück hin einen lärmenden, tutenden Bordun bei. Und Sörés an der Bratsche manövriert sein Stück so stoisch durch die mulmigen Klangmassen wie ein Schleppkahn-Kapitän in schmaler Fahrrinne. Er und seine Musiker nahmen Abstand von jedem Versuch der Verführung, was die Tugend des unbeeinflussten Hörenlassens birgt.

Stilistische Enge

Nicht so gruftig, aber auch in gewissem Maße Szene-immanent ist LUX:NM mit seiner für Kammermusikensembles ungewöhnlichen Besetzung mit drei Bläsern im Vordergund – und die Mitglieder der Gruppe suchen sich Komponisten, die dieses kraftvolle Musizieren unterstützen können. Das Gefühl der Überforderung von mehreren in einem Konzert zusammengedrängten völlig unterschiedlichen Kompositionskonzepten stellt sich hier nicht ein, eher das einer stilistischen Enge. Durchbrochen wurde das erst im letzten Stück, in Karen Powers „bog songs“, in welchem die musikalische Aktion von den Musikern auf mit Klickgebern und kleinen rappelnden Motoren ausgestatteten Instrumente überging, die vorn an der Rampe aufgestellt waren.

So ergab sich im Verlauf des Festivals ein Eindruck, der die gute alte atonale Musik, die ja von vielen Klassik-Hörern und Hörerinnen immer noch als ungenießbar modern empfunden wird, als altmodisch an den Rand gesetzt wurde. Sowohl das Programm des Boulanger-Trios (fremd wie Invasoren auf der Bühne des Heimathafens), als auch Teile der beiden DSO-Orchesterkonzerte pflegten dieses Segment, und wieder kam die Frage des Hörens auf. Sowohl die Klaviertrios etwa von Kaija Saariaho, „Light and matter“ (2014), das streckenweise nach einer Zerschnipselung aus Gabriel Fauré und Jean Sibelius klang, als auch das von Isang Yun (1973) setzen die Traditionsfolge der Romantik und ihrer expressionistischen Übersteigerung fort; der sogenannten „experimentellen“ Musik, die so beliebig-belanglos nun nicht ist, wie die Bezeichnung andeutet, stellt sie eine große kulturelle Tiefe gegenüber, die eine gewisse Hörerfahrung voraussetzt.

Orchesterwerke im erwähnten Eröffnungskonzert, etwa „glut“ von Dieter Amman (2016), oder Luca Francesconis höchst virtuoses Konzert für zwei Klaviere und Orchester „macchine in echo“ (2015) sind hochgewachsene, inhaltlich dem Expressionismus entfremdete Äste der klassischen Moderne. Am überzeugendsten, bewegendsten gestaltete sich in diesem Bereich das Bratschenkonzert von 2017 von York Höller, der als junger Mann bei Bernd Alois Zimmermann studiert hatte. Eigentlich deplatziert in einem der Avantgarde gewidmeten Festival, sang sich dieses Stück, in dessen 2. Satz die Trauer um den Tod von Pierre Boulez mitschwang, breit aus, die mitunter volltönende Melodik im ganzen Orchester spiegelnd, mit den Affekten tiefen Ernstes und letztlich der großen Freiheit des Spätwerks gesegnet. Ein großes Werk, das man dem großen Publikum zu hören anempfehlen mag.

Ein toller Krach beendete das Festival dann glanzvoll: Enno Poppes „Fett“ (2019) – Poppe weigerte sich beim Interview coram publico, den Grund dieses Titels zu verraten – fächerte das Spektrum auf C auf, was dem Orchester eine Unzahl sonst nicht intonierter Tonhöhen abzwang und von schwellenden Bläserklängen gekrönte Klangfluten unerhörter Dichtegrade und Lautstärken wogen ließ.

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