Für vier Wochen im Spätsommer schaut die große Kunst-Welt aufs kleine Bonn. Dann lädt ein opulent programmiertes Beethovenfest zum Stelldichein der Stars und solcher, die es werden wollen. Bliebe die Frage, was sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle so tut. Ist da (noch) was? – Im Prinzip ja, lautet die Antwort. Ein Streifzug.
Something to eat
Wahrscheinlich ist es ja noch nicht einmal obligatorisch, dass ein Beet-hovenfest dem Jubilar des Jahres die Reverenz erweisen muss. Hat es aber gleichwohl getan – und einen schönen Erfolg verbuchen können, wenngleich die gelungene Dramaturgie dieser Cage-Nacht mit acht parallel geschalteten „Kurzkonzerten“ (Cage und Schlüsselwerke der Moderne) sich irgendwie gegen die Intentionen der Dramaturgen durchgesetzt zu haben schien. Eine Art List der Vernunft. Und das kam so: Ausdrücklich war vorgesehen, laufende Veranstaltungen in der Bundeskunsthalle, im Kunstmuseum, im Haus der Geschichte zu verlassen, um Parallelkonzerte zu besuchen. Dabei stellte sich freilich heraus, wie sehr das beglückende Cage-Musizieren dieser Bonner Cage-Nacht (Rupert Huber mit Freyer- und Spinario-Ensemble, Leipziger Streichquartett plus Svoboda, Salome-Kammer-Ensemble) die Kriterien setzte. Man merkte es gleich, als man vom Schwerarbeiter Pierre Laurent Aimard (Boulez: Douze Notations/Première Sonate) und damit vom Forum in die wahrhaft faszinierende Anselm-Kiefer-Ausstellung der Bundeskunsthalle wechselte. Gleich am Eingang hatte ein salatschnibbelnder Rupert Huber seinen Tapeziertisch aufgebaut: Cage Songbook Nr. 46, „prepare something to eat“. Weiter von dort mit den heitersten Performances, die man sich denken kann. Laut und leise, parallel und nicht parallel. Ein Sprechen, Spielen und Lallen wie bei der fröhlichen Geisterverwirrung an Pfingsten. In „guter Laune“ und in „Gelassenheit“, so wie es sich Huber erhofft hatte, schwebte man von dannen.
Das Einschüchternde, das eine Première Sonate vermittelt hatte (auf zu hartem Klavier) – hier war man es plötzlich los. Zumal auch Salome Kammers im hessischen Dialekt reportierter Markteinkauf (Cage Songbook Nr. 36, „things“ which could be „eaten and drunk“) zur anhaltenden Stimmungsaufheiterung beitrug.
So denkbar heiter gestimmt ging’s noch einmal zurück ins Kunstmuseum. In einem nicht sehr großen, nicht sehr hohen Saal hatte man zwei Riesensärge der Firma Steinway hineingeschoben: Auftritt Duo Amal. Zwei junge Herren machten sich daran, ihre beiden D-Flügel zu traktieren. Ziemlich laut, ziemlich schnell. So laut, so schnell, dass die vorschriftsmäßig herausgeklopften Klangtrauben aus Mozarts KV 448 sich zu stauen begannen, nirgendwohin entweichen konnten und für allgemeine Gehörgang-Verstopfung sorgten. Dabei (soviel muss man einräumen) hatte das (viel gelobte) Klavier-Duo Amal sicher alles richtig gemacht. Nur eben, da wir nun einmal von diesen ganz zauberhaften Cage-Sachen kamen, mit gewahrter Achtsamkeit und Empfänglichkeit für den Raum, klang das „Richtige“ mit einem Mal und unvermutet „falsch“.
Rush Hour
Warum ich denn nicht „mitgeschrieben“ hätte? fragt Mehmet Erhan Tanman, als wir uns verabschieden. Aber es schmeichelt ihm schon, wenn die Beethovenfest-Pressechefin mitten im einen Interview zum nächsten drängt. Für Mehmet Erhan Tanman scheint das alles ziemlich normal. Erstaunlich abgeklärt ist er für seine dreiundzwanzig Lenze, der Uraufführungskomponist der diesjährigen, der Türkei gewidmeten Ausgabe der Campus-Konzerte, die hier mit großem Einsatz von der Deutschen Welle organisiert wurden und werden.
Und da sitzt er nun, Mehmet Erhan Tanman, ein junger Türke aus bildungsnahen Schichten der Metropole Istanbul. Drei-Tage-Bart. Ring im Ohr. Selbstbewusstes Auftreten. Nur, dass Mehmet zur Probe seines Orchesterwerks, das an diesem Tag seine Uraufführung erleben soll, schon einmal zu spät kommt. Man telefoniert nach ihm. Irgendwann erscheint er dann doch und ist überraschend schnell wieder fertig. Wie es war? Glänzend! Wo ist denn jetzt das Interview? Keine Frage scheint denkbar, die ihn in Verlegenheit brächte. Wie er sich denn kompositorisch verortet in einer weitgefächerten türkischen Szene? Nun, sein „Vorbild“ sei Beethoven. Aha! Platz zwei, erfahren wir, geht an Mahler.
Und für ein lupenreines Mahler-Orchester hat er auch „Traffic“ geschrieben. Darin sei verarbeitet, wie er mit öffentlichem Verkehrsmittel auf dem Istanbuler Barbaros Boulevard von der europäischen zur anatolischen Seite fahre. Immer überfüllt seien die Busse, weshalb man das Ganze in der Regel stehend absolvieren müsse. Und wegen ausgeleierter Federn und ramponierter Fahrbahn auch die Stöße hinreichend gut mitbekomme. Deshalb wohl gleich diese ruppigen Forte-Triolen im Klavier und im vierten Takt schon das erste Trompeten-Fortissimo. Wie Mehmet hängen auch wir uns in die Schlaufen und schaukeln mit ihm und dem Turkish National Youth Orchestra gute fünfzehn Minuten durch „The Traffic for large orchestra“.
Kein Problem für Cem Mansur und sein Orchester, das im Unterschied zu seinem staatstragenden Namen von privaten Stiftungen am Leben gehalten wird. Cem Mansur, der sein gutes Deutsch seinem türkisch-jüdischem Elternhaus in Istanbul verdankt, hat seine Dirigenten-Ausbildung in England erhalten, bei Leonard Bernstein verfeinert. Wie er über staatliche Unterstützung für sein nationales Jugend-Orchester denkt? Mansur schüttelt den Kopf. Man würde ihm doch nur hineinreden! Wichtig aber sei diese Unterstützung hier, womit das Veranstalter-Duo Deutsche Welle und Beethovenfest Bonn gemeint ist. Im Übrigen hoffe er, wie seine Ochestermitglieder, auf positive Rückwirkungen, wenn sie denn wieder zu Hause sind. Denn, was zählt schon mehr als Beethoven?! Auch Mehmet hofft. Vor allem, dass sich der Bonner Auftritt für ihn als Sprungbrett erweisen möge. Was uns auf seine künstlerischen Pläne bringt. Die Antwort prompt: Zu Wolfgang Rihm gehen! Warum ausgerechnet Rihm? Welche Art von Handschrift ihm denn da imponiere, ihn interessiere? Und, auch in diesem Fall liegen die Dinge denkbar einfach. Man staunt nicht schlecht, dass ein 23-jähriger türkischer Jungkomponist auch bei einer solchen Antwort nicht die Spur rot werden kann. Die Unterschrift Wolfgang Rihm öffnet die Türen, weiß Mehmet Erhan Tanman.
I am a very lucky man
Joseph Phibbs strahlt. „Indeed, I am a very lucky man!“ Also lagen wir mit unserer Vermutung gar nicht so verkehrt. Es war aber auch eine wirklich fulminante Ausführung, die Esa-Pekka Salonnen mit dem Philharmonia Orchestra da hingelegt hatte. Mit „Rivers to the Sea“ hat der englische Harrison Birtwistle-Schüler Joseph Phibbs nun allerdings eine Orchestermusik geschrieben, die ganz wunderschön swingt zwischen Abstraktion und Wiedererkennbarkeit. Die Flüsse, die Phibbs zum Meer streben lässt, sind Geist von Bartóks, Brittens und Bernsteins Geist, grüßen im Vorübergehen Ives und Gershwin und John Adams (und manches mehr), ohne dass das alles zur Zitatmaschine verkommen würde. Die insgesamt achte Aufführung von „Rivers to the Sea“, sagte uns Phibbs, sei tatsächlich die Schönste gewesen. Das war schon wirklich selten und bemerkenswert in dieser von Salonnen mit missionarischen Eifer durchgefochtenen Wiedergabe, dass ein neues Werk im Rahmen des festival-obligatorischen Symphonien-Zyklus (in diesem Fall zwischen Sechster und Vierter) nicht in Nichts zerfiel, sondern sein Standing behauptete. Wie es ja eigentlich immer sein sollte.