Die eigentliche Entdeckung dieser Produktion ist ihr Spielort. Ökonomiegebäude und Orangerie der ehemaligen Deutschordenskommende gehören zu jener verschwindenden Sorte Architektur, die groß ist, ohne angeberisch sein zu müssen.
Das alles mitten in Trier, von den Trierern selbst gründlich vergessen. Über dem Eingang kündet ein ramponiertes Schild davon, dass das Stadttheater hier einmal seine Probebühne aufgeschlagen hat. Dann kam offenbar der Schimmel, woraufhin das Theater wieder auszog und die Fantasielosigkeit ein. Bis jetzt, da dieser dornröschenhaften Anlage etwas passiert ist, was man einen Glücksfall nennen muss – die Begegnung mit der Kunst. Künstler als Wachküsser, als Wiederentdecker mit Auge und Sinn für lohnende Ausgrabungen. Rundweg überzeugend wie da Ökonomie und Orangerie der verflossenen Deutschherren auf einmal ihr Potential als Ausstellungs- und Spielort zeigen. Studenten des Fachbereichs Gestaltung der örtlichen Hochschule haben großflächige Arbeiten gehängt. Die Motive dafür haben sie einem rabenschwarzen Roman des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster entnommen. Nicht anders, vor Jahren schon, Gerhard Stäbler. Bereits 2006 hat der Komponist „In the Country of last Things“ als dramatischen Stofflieferanten für eine Kammeroper entdeckt und sich von Alexander Jansen und Hermann Schneider ein Libretto schreiben lassen. Entstanden ist daraus ein Musiktheater für drei Sänger, Aktionschor, Schlagwerk, Akkordeon, Zuspielung. Die freie Szene Trier hat ihr Herzblut dafür gegeben.
Freilich mussten die Organisatoren von der Trierer Gesellschaft für aktuelle Klangkunst, mussten Klaus Reeh und Bernd Bleffert erst einmal den Sperrmüll kommen lassen, um die barocken Gebäude für die Neuinszenierung von „Letzte Dinge“ überhaupt nutzen zu können. Jemand sollte mal ein Buch schreiben: Theater-Archäologie, im Dreck wühlen, um der Schönheit willen – eine noch viel zu wenig gewürdigte Disziplin unseres gegenwärtigen Theaterbetriebs! Fürs Regieteam um den Trierer Musiker, passionierten Theater- und Augenmenschen Thomas Rath kam diese jüngste Ausgrabung gerade recht, ließ sich doch so die Auster/Stäbler’sche Phantasmagorie als Käfigwelt, als suggestives Spiel der Verlorenheit vorführen – so schwarz das Spiel, so heiter allerdings auch in diesem Fall die Begeisterung. „Niemand kennt das hier, alle fahren, alle gucken vorbei.“ Thomas Rath, Mitbegründer von Ensemble „Tonwerke Tier“, gehört zu denjenigen, die den Blick haben.
Den Anfang der „Letzten Dinge“, in der eine Frau mit dem schönen Schwitters-Namen Anna Blume ihren Bruder sucht, hat er in die Orangerie verlegt, hat in die Mitte drei Stühle gestellt, einen Tisch davor, darauf je zwei Blecheimer. Dann lässt Thomas Rath das Licht ausgehen, drei Spieler auftreten, die Stühle besteigen und eine Schütt-Performance starten. Ein Höllenlärm, wie da das Material fortwährend von einem in den anderen Eimer gekippt wird: Nüsse, Kronkorken, Kies. Immer hin und her. Das geht so eine ganze Weile bis sich ein Rhythmus einstellt und dieses Sisyphos-Schütten von unserem Innenleben Besitz ergreift, sich als akustisches Bild etabliert. Endlich, bevor wir ganz in Trance fallen, geht das große Holztor auf. Wir dürfen wieder ins Freie. Hinüber geht es (vorbei an den ominösen Leitplanken) in die Ökonomie, wo bei unserem Eintreten schon eifrig musiziert wird. Das Duo Rie Watanabe, Sakiko Idei greifen den Schütte-Sound auf, treiben ihn verwandelnd weiter. Auf einmal sind wir im Theater. Musste man zur Ouvertüre, im Vorhof zur Hölle, noch stehen, darf man hier komfortabel Besucherbedürfnisse artikulieren. Es gibt Sitzplätze. Und auf einmal eine definierte Blickrichtung.
Nur, dass der Vorhang nicht hochgehen will. Zwischen uns und den letzten Dingen hängt ein Stück Stoff. Bis zum Schluss. So lang bis diese tiefdepressive Szenerie wieder im Dunkel versinkt, aus der sie kommt. Eine verhängte Welt. Getaucht in ein Sfumato aus fahlem Licht und perkussivem Klang. Grundton, Grundfarbe für das schleppende Stolpern der Leiber, das hier den aufrechten Gang ersetzt hat. Die Begleitmusik dazu: Ostinates Schaben, Schlagen, Reiben. Akkordeonflackern mischt sich in diese an Piranesi erinnernde Carceri-Welt. Wie Aufschreie, letztes Aufbäumen. Wo wir genau sind, lässt sich nur ahnen. Im Kino wäre es ein Horrorfilm. Und auf der Theaterbühne?
Ist es der Versuch, das Grauen, das Paul Auster in seinem 1987 erschienenem Roman beschreibt, in ein Stück Musiktheater zu übersetzen. Menschen sind eingeschlossen, dem Tod geweiht. Warnungen werden ausgestoßen vor „Wächtern“, vor „Zöllnern.“ Und es gibt Tote. So viele, dass die „Lastwagen der Stadtverwaltung“ sie wie bei der Kadaverentsorgung einsammeln müssen. Die Beschreibungen erinnern an ein Nazi-Ghetto, an eine Todes-Lagerwelt, deren Unbegreifleichkeit Aus-ter im ersten Drittel seines Romans mit großer Kunst nachstellt. Dann will er den Ausbruch wagen – und scheitert. Gerhard Stäbler hat auf solche Lösung wohlweislich verzichtet. Was ihn an diesem Stoff interessiert hat, war der „Zerfallsprozess von Gesellschaften“. Auf den Kriegsschauplätzen des Nahen und Mittleren Ostens sei dies, lesen wir im Programmheft, Realität geworden.
Dank einer Aussparung im Vorhang hockt Ulrike Froleyks als einzige im Licht, kramt in Papieren, liest sich durch den Wust ihrer Erinnerungen an eine untergehende Welt, der sie irgendwie entronnen ist. Kostümbildnerin Ele Bleffert hat sie in leuchtendes Rot gehüllt, eben ganz Anna Blume. Das Kollektiv der Elenden mitsamt den drei Hauptdarstellern ansonsten in Lumpen. Warschauer Ghetto. Aleppo. Das sind die Bilder dafür. Truike van der Poel, Carl Rosman, Martin Lindsay, die Solisten eines Sängertrios, in dem der britisch-deutsche Bariton Lindsay, dem das Abgründige längst zur zweiten Theaternatur geworden ist, den stärksten Eindruck hinterlässt.
Insgesamt eine mutige Produktion, die Kompromisse allein bei der Probenzeit und damit beim schwächsten Glied der Kette, beim Laienchor, machen musste, dem das Lumpenproletarisch-Pittoreske wie eine Klette anhing. Da werden bei den hochmotivierten Mitgliedern von „Quarter Past Seven“ und „Konzer Vokalkreis“ mit Sicherheit die Bilder des guten alten Stadttheaters herumgespukt haben – Chorarbeit vor neuen Herausforderungen. Wahrscheinlich tun wir gut daran, uns zu erinnern, dass die Oper einmal mit dem Tanz angefangen hat.