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 la bianca notte / die helle nacht. Tómas Tómasson (Dino), Golda Schultz (Sibilla). Foto: Jörg Landsberg
la bianca notte / die helle nacht. Tómas Tómasson (Dino), Golda Schultz (Sibilla). Foto: Jörg Landsberg
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Auch Paketband hindert nicht Beliebigkeit – Zur Uraufführung von Beat Furrers neuer Oper an der Staatsoper Hamburg

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Mit der musikalisch gelungenen, szenisch ambivalenten Uraufführung von Beat Furrers „la bianca notte / die helle nacht“ gibt Simone Young ihre letzte Premiere als Intendantin und Generalmusikdirektorin an der Staatsoper Hamburg

Quadrate aus Holzfurnier in unspektakulärem Braun bilden den Bühnenhintergrund zu Beat Furrers neuer Oper „la bianca notte / die helle nacht“. Was zunächst wirkt wie eine Referenz an den angesagten Retro-Designlook italienischer Provenienz, entfaltet seine Kraft, sobald sich davor die Figuren bewegen und die Quadrate plötzlich als Rahmen fungieren. Nur wofür? Das Bühnenbild von Jeremy Herbert sieht zweifellos sehr gut aus – und doch wird es nicht ausreichen, um ein Stück von Furrerscher Komplexität zu tragen, wie die Uraufführung zeigen wird.

In ihren zehn Jahren an der Staatsoper Hamburg hat Simone Young, Intendantin und Generalmusikdirektorin in Personalunion, ausgiebig Strauss, Britten, Verdi, Wagner programmiert und dirigiert. Zeitgenössisches dagegen war kaum dabei – und nur eine einzige, nicht einmal abendfüllende Uraufführung, nämlich der Einakter „Le Bal“ von Oscar Strasnoy, der 2010 zwischen Schönbergs „Erwartung“ und Rihms „Das Gehege“ das Mittelstück in der „Trilogie der Frauen“ bildete. Der Abend ist schon lange in keinem Spielplan des Hauses mehr aufgetaucht. Young hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder Anfeindungen ausgesetzt gesehen, von Kritik an ihren Spielplänen bis zu Buhstürmen, wenn sie im Graben stand. Gegen Ende ihrer Amtszeit haben sich die Wogen spürbar geglättet. Nun nimmt Young ihren Abschied ausgerechnet mit einem Auftragswerk von Furrer, einem Stück Musiktheater, das für das Hamburger Opernpublikum in vieler, längst nicht nur musikalischer Hinsicht Neuland bedeutet.

Furrer hat kein Drama vertont, nicht einmal eine zusammenhängende Handlung. Sein Libretto beruht auf den „Canti Orfici“ von Dino Campana, der Anfang des 20. Jahrhunderts lebte, jahrelang durch die Welt vagabundierte und als Dichter nie reüssiert hat; sein Bändchen hat er gewissermaßen im Selbstverlag herausgebracht. 1918 wurde er in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Er hat sie bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen.

Der zunehmenden Verwirrung seines Geistes hat Campana schreibend Einhalt zu gebieten versucht. Dabei sind eminent poetische Texte in sehr heterogenen Formen herausgekommen. Furrer hat Auszüge daraus zu 17 Szenen gefügt. Es geht um Existentielles, das wird auf der Bühne gleich klar. Aber wer nun wer ist und was von wem will und warum, und was der Chor mit den fünf Protagonisten zu tun hat – alles das bleibt offen. Die Oper ist aus sich heraus kaum zu verstehen. Das muss sie auch nicht; es gehört im zeitgenössischen Musiktheater beinahe zum guten Ton, dem Publikum eine eindeutige Orientierung zu verweigern. Selber denken ist angesagt – und womöglich nicht einmal das, sondern, noch anstrengender, vielleicht sogar beängstigender: selber fühlen. Nämlich was solch ein Bewusstseinsstrom an Tönen und Bildern im eigenen Ich auslöst.

Ouvertüre, Paukenschlag, mitten hinein ins Geschehen? Furrer ist kein Verdi. Er bietet lediglich sehr lose Handlungsstränge an: Zwei vom Leben gerupfte Gestalten, Dino, das Alter ego des historischen Dichters und wie dieser auf dem Weg in den Wahnsinn, und sein früherer Reisegefährte Regolo, treffen sich nach Jahren zufällig wieder und erzählen von ihren Erlebnissen. Die Wahrsagerin Indovina begleitet das Geschehen gleichsam von außen kommentierend. Und dann ist da noch die Futuristin Sibilla, Anbeterin der Geschwindigkeit, deren Rolle in diesem Geflecht lange unklar bleibt.

Eine musikalisch äußerst sparsame Parlando-Szene eröffnet „la bianca notte“. Über dem rezitativischen Gesang von Dino und Regolo flirren fast unhörbare, stratosphärisch hohe Liegetöne von Akkordeon und Solovioline. So kann eine italienische Nacht klingen – und so haarfein mischt Furrer seine Tonsprache ab. Seine Kompositionsweise ist akribisch bis hinunter auf die Molekularebene. Stellenweise wechselt die Partitur taktweise von 2/8 zu 5/16 und weiter zu 7/16. Die einzelnen Stimmen schlingern jede in einem anderen Rhythmus chromatisch abwärts. Nicht immer erscheint diese kompromisslose Ausdifferenzierung notwendig; man kann sie oft einfach nicht hören, jedenfalls nicht bei einem groß besetzten Opernorchester.

In knapp 90 Minuten entblättert der Komponist einen Mikrokosmos seiner gleichsam inwendigen Musik. Fortissimostellen sind die Ausnahme, dafür beugt er sich mit dem Interesse eines Wissenschaftlers über die Anatomie der Musik. Minuten dauert es, bis der Orchesterklang vom kosmischen Rauschen der Kontrabässe über sehr langsam gegeneinander gleitende Liegetöne in Holzbläsern und Geigen zu einem mikrotonalen Tutti-Maelstrom angewachsen ist. Immer mal ragen Einzeltöne aus der Flut wie Zweige, bestürzend menschlich wirkende Klagelaute der Sologeige oder Flöte, die jeder, so kurz sie auch ein mögen, ein Eigenleben führen. Der Klang atmet und vibriert wie ein Wesen, für das die Grenze zwischen Irdischem und Universellem keine Rolle spielt.

Der Hörer hätte also schon genug damit zu tun, sich diesen Tönen zu überlassen und den Assoziationen, die Campanas Texte im Kopf in Gang setzen. „Jetzt ist die Nacht entzündet in ihrem ganzen brummenden Gewirr der Sterne und Flammen“, singt etwa Sibilla, soweit noch verständlich, und etwas später: „Die Vene ist geöffnet, trocken, rot und süß ist das Skelettpanorama der Welt.“ Auf italienisch, versteht sich.

Was will man mit derart hermetischen Texten auf der Bühne anfangen? Das ist die Kernfrage bei der Inszenierung, und der Regisseur Ramin Gray weicht ihr elegant aus. Mal verrätselt er das Stück ohne Not zusätzlich. So sind bei ihm Dino (Tómas Tómasson) und Regolo (Derek Welton), beide singen in Baritonlage, eine Art doppeltes Lottchen: beide kahlrasiert, beide in weißem Hemd und schwarzem Sakko. Aber wozu?

Dann wieder entscheidet er sich für eine fast pennälerhaft deutliche Symbolik. Das Paketband etwa, mit dem Dino versucht, die Welt und sich in ihr zu befestigen, konterkariert die kühl-glatte Ästhetik der übrigen Ausstattung auf ungute Weise. Dass die offen sichtbare Bühnenmaschinerie immer wieder die Ebenen verschiebt, auf denen der Chor hinauf- und hinunterfährt, bietet sich als Hinweis auf die Technikverliebtheit der Futuristen an. an. Könnte aber auch etwas ganz anderes bedeuten, etwa Dinos zerfallende Weltwahrnehmung. Dessen Weg in den Wahn führen Gray und Herbert überdeutlich vor. Die Chordamen tragen grüne Psychiatriekittel, die Quadrate geraten schon mal ins Rutschen, und gleich zwei Monde rollen über die Bühne. So ganz neu ist das alles nicht, aber in seiner reduzierten Eleganz hübsch anzusehen. Und einen Hauch beliebig.

Anders die Musik. Die Solisten singen mit eben der Dringlichkeit, die die Regie vermissen lässt. Golda Schultz als Sibilla schraubt ihren dramatisch gleißenden Sopran immer höher, und Tanja Ariane Baumgartner als Indovina mit ihrem warmen Mezzosopran ist das schlagende Herz der Oper. Mit ihrem üppigen, an Wagner gemahnenden „Lied von der Chimäre“ verneigt sich Furrer vor der Tradition. Der Staatsopernchor, von Eberhard Friedrich hervorragend vorbereitet, findet berückende Klänge, die Philharmoniker Hamburg spielen akkurat und farbenreich, wenn auch manchmal etwas zu stark im Verhältnis zu den Sängern. Gelegentlich fehlt es an Drive und scharfkantiger Artikulation. Sie sind eben kein Spezialensemble. 

Doch gerade darin liegt das Verdienst dieser Produktion: ein Stück zeitgenössischer Musik in die Mitte der in musikalischen Dingen oft sehr traditionell gesonnen Hamburger Gesellschaft zu holen. Der Beifall ist nicht enthusiastisch, aber wohlwollend. Das hat dieses Opernhaus in der Ära Young schon ganz anders erlebt.

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