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v.l.n.r.: Catherine Stoyan, Till Wonka, Lindy Larsson, Via Jikeli & Marc Benner in Carmen am Gorki Theater Berlin. Foto: © Ute Langkafel MAIFOTO

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„Auf in den Kampf!“ – Erkenntnisscharfe „Carmen“-Bohrung am Berliner Gorki Theater

Vorspann / Teaser

Das mit Produktionen wie „Alles Schwindel“ äußerst musikaffine Gorki Theater präsentiert kurz vor dem 150. Jahrestag der weltweit bekanntesten und aufgrund ihres diffamierenden Frauenbildes zunehmend ungeliebten Oper Georges Bizets eine souveräne „Carmen“-Überschreibung. Jens Dohles pointiertes Arrangement transformierte Bizets revolutionäre Partitur brillant und klug. In der faktisch unbestechlichen Inszenierung von Christian Weise glänzte der schwedische Musicalstar Lindy Larsson als Carmen, die mitsamt aller die Figur überlagernden Klischees sterben will. Am Ende singen alle „Auf in den Kampf!“ – Großer Jubel. 

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Genau genommen begann die Entstehung der „Carmen“-Produktion des Gorki Theater am 14. September 2017. Da gelangte in Berlins Schauspielhaus mit dem buntesten und konstruktiv revoltierendem Programm „Roma Armee“ zu Uraufführung: Zum Ensemble gehörten der Romnija, Rom und Romani Traveller. Man versteht sich „übernational, divers, feministisch, queer“ und setzte diese Produktion zu „Selbstverteidigungszwecken gegen „strukturelle Diskriminierung, Rassismus und Antiziganismus“. Ob diese Gorki-„Carmen“ das Potenzial zum nächsten Meilenstein in der „Carmen“-Rezeption haben wird wie Rodion Shchedrins Suite, die Flamenco-Transformation von Carlos Saura oder das „Carmen Jones“-Musical mit dem Switch in ein PoC-Milieu, wird sich zeigen. 

Denn nach der Premiere kann ich mir schwerlich einen geeigneteren Cast vorstellen als die hier Beteiligten mitsamt dem jungen Gorki-Ensemblemitglied Via Jikeli, welche nach ihrer Mitwirkung in „Der Untertan“ hier als strafversetzter Sergant Don José in das Rollenfach des vom System kastrierten, beschädigten und verhetzten Mannes (und Mörders) hineinwächst. Einige fundamentale Unterschiede hat die Gorki-„Carmen“ zu anderen Adaptionen: Sie ist informativ durch Genauigkeit, vernachlässigt in der Parallele von Handlungsverlauf mit dem neuen Dekonstruktionsprotokoll nicht die Sinnlichkeit und hohen Unterhaltungswert. 

Christian Weise nutzt in seiner Regie mit hintersinnigem Humor viele Mittel des aktuellen Überschreibungstheaters. So endet das Stück nicht mit dem aus dem Orchester aufschreienden Schicksalsmotiv, sondern mit der Parole: „Auf in den Kampf!“ und Aufforderung ans Auditorium zum Mitsingen. Davor hatte der um einen Kopf kleinere Don José auf die Carmen in Gestalt des schwedischen Musical-Stars Lindy Larsson mindestens siebenmal eingestochen. Die ‚Zigeunerin‘ Carmen als Opernschlager wird so aber nicht vernichtet, sondern reformiert – mitsamt der früher als zersetzend und promiskuitiv dargestellten Partnerwahl sowie den Zuschreibungen „vogelfrei“, dunkelhäutig, sinnlich, flatterhaft und die Männeropfer in Wahnsinnsverzweiflung bzw. Verzweiflungswahnsinn treibend. Für die Figur Carmen, egal ob „Täterin“ oder „Opfer“, stand darauf im abendländischen Narrativ die Todesstrafe. 

Kein Wunder also, dass die Roma-Gemeinschaft mit dieser Kulturikone ihre Schwierigkeiten hat. Neudeutungen mit Hinterfragungen gibt es gelegentlich an Opernhäusern, etwa am Theater Basel in der Regie von Constanza Macras. Doch im Premium Level der Oper beschäftigte man sich kurz vor dem Jubiläum vor allem mit historisch Informierendem wie der Erschließung der „Carmen“-Urfassung durch den Dirigenten René Jacobs, einer Rekonstruktion der Uraufführungsinszenierung am Théâtre Lausanne oder einer Topographie heteronormativer Geschlechterrollen im Umfeld der Uraufführung 1875 wie an der Opéra-Comique in Paris und an der Oper Zürich. 

Auf der Bühne von Julia Oschatz und Felix Remme sind genügend weiße Flächen, welche das Textbuch-Kolorit der Offenbach-Librettisten Heinri Meilhac und Ludovic Halévy in Schrift und Strichzeichnungen thematisieren. Lane Schäfers Kostüme dazu sind in klaren Farben von Weiß bis Blau, vor allem aber prägnant und symbolisch: Carmen trägt Flamenco-Kleider erst in Pink und später in Schwarz. Ihren Tod will die Gorki-Carmen auch als Schlussstrich unter die toxischen Zuschreibungen an die Figur. Deren kleinbürgerlich angepasstes Gegenbild Micaela – mit brillant exzessiver Musicalgestik dargestellt von Riah Knight, der Ko-Initiatorin dieses Projektes – trägt silberblonde XXL-Zöpfe wie vom Theatermagier Robert Wilson. Geschliffenes Pamphlet und hochintelligente Comedy: Zum Carmen-Fluidum trägt bei, dass man die verzopftesten, antiquiertesten und harmlosesten aller deutschen Übersetzungen verwendete. Rönni Maciels Choreographie holt Wirkung aus den Hispanismen umgehenden, aussagekräftigen Posen und hat Schärfe bis ins lüsterne oder tötende Augenblitzen. 

Natürlich beflügelt das intelligente und Kontraste ausreizende Arrangement von Weises musikalischem Langzeit-Partner Jens Dohle diese Opernfolklore-Demaskierung. Denn weder Weise noch Dohle und der in dieser 2,25-Stunden-Fassung fast alles aus der riesigen Carmen-Partie singende Lindy Larsson schädigen – toxischer Roma-Antistoff hin oder her – die geniale, weil sich auf die ästhetischen Wurzeln der Werkform Opéra-comique besinnenden Partitur Bizets. Dieser veredelte nach den opportunen Frauenfiguren seiner früheren Opern „Die Perlenfischer“ und „Das schöne Mädchen von Perth“ das Carmen-Feindbild mit fast anarchischer Formenvielfalt zur paradigmatischen Benutzbarkeit. Larsson betrieb mit dieser erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts hinterfragten „Carmen“-Bürde aus Operndualismus, Zuschreibungen, Popularität und auch einer oft verkrampften Interpretationsrebellion eine deutliche Dekonstruktion. 

Besonderes Darstellungskunststück: Während Dohle mit Steffen Illner (Bass & Cello) und dem Virtuosen Dejan Jovanović (Akkordeon) die aufregend sehnige bis laszive Skelettierungsarbeit am gewertschätzten Bizet-Original betreibt, setzt der hünenhafte Lindy Larsson auf die Genauigkeit und Abgründigkeit eines Chansoniers. Larsson singt von „Seguidilla und Manzanilla“ so, dass bei Via Jikilis José, Marc Benners Hauptmann Zuniga und Till Wonkas Escamillo die sinnlichen Sicherungen plausibel und diagnostisch nachvollziehbar durchbrennen. 

Weise praktiziert in seiner Regie so, dass einem die angewandten Verfremdungsmittel des Theaters immer knackfrisch vorkommen. Das gilt auch für die musikalische Einrichtung nach dem kurzen Zuspiel einer besonders zukleisternden Einspielung des „Carmen“-Vorspiels. Hier zieht man alle Register eines zeichenhaften Theaters ohne falsches und damit eskapistisches Sentiment. Riesenapplaus für eine bestechende „Carmen“-Tiefenbohrung, die schärfer trifft als Josés Mordmesser bei Bizet.

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