Ein Staatsopernintendant, der in einem Ausweichquartier spielen muss, ohne dass ein Ende auf die Zeit des Um- und Ausbaus des Staatsoperngebäudes in Sicht ist, kann wohl mit dem Kapitän einer Boeing 787 verglichen werden, dem sein erster Einsatz auf dem Flughafen Berlin-Brandenburg versprochen ist. Jürgen Flimm ließ es sich nicht nehmen, in seiner Ära, die sich durch internationale Koproduktionen wie auch durch den Einsatz für neue Werke des Musiktheaters auszeichnet, doch eine erste Premiere in der noch unfertigen Staatsoper Unter den Linden zu realisieren.
Also bat der Hausherr das Opernpublikum für seine Inszenierung von Sciarrinos „Macbeth“ auf die Baustelle Unter den Linden, und schuf am Ort des Umbruchs zwischen Gestern und Morgen ein rundum packendes Opernerlebnis.
Die Premiere der im Jahre 2002 uraufgeführten Kammeroper von Salvatore Sciarrino, erfolgte im Rahmen des Festivals „INFEKTION!“, die mit zwei Opern und Kammermusik den 1947 geborenen italienischen Komponisten fokussiert.
Im Gegensatz zu dessen vor einer Woche in der Werkstatt des Schillertheaters inszenierter „Lohengrin“-Paraphrase, ringt Sciarrino in seinem aus Shakespeares Dramentext selbst collagierten Libretto um die dramatische Wahrheit eines Potentaten auf dem Weg zur höchsten Macht. Damit reibt sich Sciarrino an Verdis viel gespielter Oper „Macbeth“, die er nicht an Melos, doch an Kürze und dramatischer Wucht schlägt.
Das Publikum sitzt auf zwei Seiten eines abgewrackten, klassizistischen Raums, der vor dem Umbau als Orchesterprobensaal gedient hat. Dabei ist kaum auszumachen, welche Attribute dieser Location, mit Kamin und raumhohem Spiegel an der Querseite, zur ursprünglichen Architektonik gehörten, und welche nun von der Ausstatterin Magdalena Gut ergänzt wurden. Der Betonboden ist an der Eingangs-Querseite aufgeschichtet zu einem Berg mit Wasserbecken, mit drei alten Teppichen am Fuße des Hügels und mit mehreren alten, schweren Sesseln vor dem Kamin. Die durch die hohen Fenster leuchtende Abendsonne wird abgelöst durch einen 10 Kilowatt-HMI-Spot, der als ein adäquater Sonnenersatz an einem Baukran hängt.
In der Ecke neben dem Kamin drängen sich 14 Instrumentalisten. Auf mehrere, in unterschiedlicher Höhe positionierte Bildschirme übertragen, leitet David Coleman, selbst Komponist, mit Emphase die Partitur seines italienischen Kollegen; souverän und sicher hat er beim gestischen Duktus dieser Musik jeden Mitwirkenden im Auge; mit kleinen Winken seiner Linken bietet er Sicherheit bei den äußerst diffizilen Einsätzen der Solisten.
Unheilschwangeres Atmen, eine überblasende Flöte und abgerissene Fetzen der Blechbläser geben die Stimmung vor. Noch im Off startet Duncan, der gute König, der seinen verletzten Sergeanten auf dem Buckel trägt, obgleich er selbst sich auf Krücken stützen muss.
Sechs Voci, (Sonia Grané, Lena Haselmann, Uta Buchheister, Magnús Hallur Jónsson, Jakob Ahles, Ulf Mädler), sind unisex in bodenlange, rot changierende Abendkleider gewandet, zunächst mit übergezogenen Regencapes. Sie karessieren den in Rüstung schlafenden Macbeth, schminken ihn zu den Texten der Hexen-Prophezeiungen zum König.
Die Lady, mit Allonge-Perücke und Reifrock (Kostüme: Birgit Wentsch) empfängt den Gatten mit gespreizten Schenkeln auf einem Sessel. Der Dolch für den Mord am debilen König Duncan schwebt nicht vor den Augen des Macbeth, sondern steckt im Betonboden. Mit faszinierender stimmlicher Ausdruckbreite gestaltet Otto Katzameier die Titelpartie. Die initiierenden Nachtgeräusche aus der Orchestereinleitung begleiten auch Macbeth’ Dialog mit dem Dolch, wobei der Bariton wiederholt die Kopfstimmenregion einsetzt. Das Klopfen, welches das Paar erschreckt, erklingt als Fernschlagwerk aus dem Nebenraum. Mit jaulendem Katzenjammer steigern die solistischen Streicher einen bereits in Sciarrinos „Lohengrin“-Partitur ähnlich anzutreffenden Effekt. Nachdem die Lady den Mordverdacht auf die Diener Duncans gelenkt hat, säubert sie sich ihre Hände an einem ölig roten Tuch immer blutiger.
In der Szene zwischen dem bedrohten Banquo und seinem Sohn, in grünem Licht, zertrümmert Fleance eine Fensterscheibe des ohnehin arg fragmentarischen Raums. In Sackleinen und mit gigantischen Ziegenköpfen und gezückten Dolchen umkreisen die Voci Vater und Sohn.
Im Duktus der Festmusik erinnert die zweite Szene des zweiten Aktes an das Eröffnungsmotiv des Brindisi in Verdis Oper, ohne dass Sciarrino dieses direkt heranzieht. Er zitiert jedoch den Auftritt des Steinernen Gasts aus dem Schlussakt von Mozarts „Don Giovanni“, wenn Banquo als Geist erscheint, der dann auch selbst die zweite Prophezeiung der Hexen über Macbeth’ Ende durch einen sich bewegenden Wald ausspricht. Beim erneut sterbenden Banquo zitiert Sciarrino dann Verdi, aber nicht „Macbeth“, sondern die 3. Szene des 1. Aktes „Un Ballo in Mascera“. Die Voci schütten Konfetti aus ihren Sektgläsern.
Für die Flecken-Arie der wahnsinnig gewordenen Lady Macbeth – sie steckt den Kopf in einen durchsichtigen Kleidersack – verwendet Sciarrino durchaus mehr Zeit als Verdi. In seiner Oper notieren die Voci mit Notizblöcken die Selbstanklagen der Königin, die sich gleichwohl auf dem (Thron-)Sessel über den schlafenden Gatten erhebt. Und in Flimms Inszenierung dient auch der raumhohe Spiegel als Schreibunterlage.
Die Lady, von Krätze befallen, legt Oberteil, Krone und Perücke ab. Von den Voci verfolgt, rennt sie zum Wasserbecken. Großartig, wie Carola Höhn diese Wahnsinnsszene dramatisch gestaltet. Macbeth, der vorher auch schon mal im Kamin geschlafen hat, säuft am Kamin aus der Flasche, und wie eine Mittsommernachtssonne strahlt (in Reibung zum besungenen „kleinen Licht“) erneut der HMI in den Raum.
Ein Diener schlurft herein und verschanzt sich hinter den Sesseln. Die Voci apportieren die tote Lady. Wie ein Menetekel erstrahlen grün leuchtende Zeichen an den Wänden. Auch der letzte Monolog des Macbeth, der bei Verdi nur in der Urfassung steht, der aber zumeist auch in die Aufführungen seiner späteren Fassung integriert wird, ist in der neuen Oper sehr viel umfangreicher – ein deutliches Tribut an die Gattung Oper. Macbeth erklimmt den Sims des Kamins und watet anschließend im Bassin, mit Wasser spritzend. Der Bote (sehr intensiv die Altistin Katharina Kammerloher, zuvor auch Sergeant, Fleance, ein Mörder und ein Wachsoldat), berichtet aufgeregt vom sich bewegenden Wald und zieht dabei ihren Reitsattel am Strick hinter sich her. Im sich anschließenden Zwischenspiel dominieren wieder Katzenlaute. Eine Natriumdampfröhre verstärkt die trübe Stimmung, die Voci umkreisen die sich mit hoch ausgestreckten Schwertern bedrohenden Kämpfer Macbeth und Macduff (Timothy Sharp, der zuvor auch den Duncan und einen Höfling dargestellt hat).
Die Motive des Vorspiels schaffen einen sinnreichen Bezug und sind zugleich rahmenbildend. Als Macbeth sein Schwert sinken lässt, verlischt der HMI und erklärt die Bedeutung dieses Sonnenlicht-Ersatzes als Lebenslicht des machtgierigen Helden.
Den Epilog, „Abschied“ genannt, hat der Komponist betont harmonisch gestaltet. Macduff krönt sich einsam vor dem Spiegel, dann trinkt der Schotte genussvoll einen Whisky. Die Voci intonieren ein Glissando auf das Wort „traccia“ und werfen diese „Spur“ optisch mit dem Sand der Zeit in den Raum.
Selten hatten Zweit- oder Drittkompositionen eines bereits erfolgreich als Oper vertonten Stoffes Hoffnung auf einen nachhaltigen Erfolg; Sciarrinio aber, hier im Verbund mit Regisseur Jürgen Flimm, dem Dirigenten David Coleman und einem rollendeckenden Sängerdarsteller-Ensemble, ist mit „Macbeth“ ein echter Wurf gelungen.
Nach knapp 2 Stunden jubeln fast 200 Besucher am Ende des großen, pausenlosen Opernabends und spenden insbesondere dem Komponisten Ovationen. Der Regie führende Altmeister und Hausherr Jürgen Flimm, beim Applaus mit einer orangefarbenen Rose im Knopfloch, darf rundum zufrieden sein: Sciarrino schreibt im Auftrag der Staatsoper bereits an einer neuen Oper, die in der Staatsoper uraufgeführt werden soll.
- Weitere Aufführungen: 28., 29., 30. Juni, 1. Juli 2014.