Mitte April rückte Esslingen am Neckar – eine an vielen Ecken beschauliche Mittelstadt im Stuttgarter Speckgürtel – wie jedes Frühjahr seit inzwischen acht Jahren für anderthalb Wochen in den Aufmerksamkeitsfokus der Klassikszene.
Zumindest in den Fokus des Teils dieser Branche, der mit offenen Ohren bis händeringend auf der Suche nach Möglichkeiten, nach Optionen für die Zukunft der klassischen Musik ist. Oder etwa „nur“ des Teils der Feuilletons und der Medienanstalten, der sich wünscht, dass dem so wäre?
Musizieren wider den Hype
Ein enormer Erwartungsdruck liegt in der Luft – aber von dem bekommt der Großteil der Esslinger Bürger vermutlich kaum etwas mit. Von der Hoffnung, das neue Konzertformat zu finden. Und immer weiter befeuert durch schwärmerisch berichtende Medien, vom Geheimtipp zum „Must see“ für Kulturmanager emporgehoben. Steven Walter, der Künstlerische Leiter des PODIUM Festivals, ist sich der (be)gierigen öffentlichen Beobachtung durchaus bewusst, unter der die Konzertdesign- und anderen künstlerischen Ideen des vielköpfigen Teams im Hintergrund stehen. Im festivaleigenen Blog schreibt er: „Hype heißt ja nicht, dass am Gehypten nichts dran ist – im Gegenteil: es hat meist extrem viel Potential. Nur erfasst der heiße Wind, der da Hype heißt, eben nicht das Wesentliche der dahinter stehenden Idee, sondern arbeitet sich einfach an den überzogenen Heilserwartungen ab.“ Wer diese überzogenen Heilserwartungen ablegt, wer Esslingen nicht für das Bayreuth des Konzertdesigns hält, der erlebt hier eine sehr breite Palette an gut durchdachten Formaten und Ideen, wie klassische Musik – vor allem die ein Mauerblümchen-Dasein führende Musik ab der Moderne – einem Publikum nicht untergejubelt wird bzw. nach dem Sandwich-Prinzip in ein Sinfoniekonzert gepackt werden muss.
Investition Vertrauensvorschuss
Die Marke PODIUM steht für einen Vertrauensvorschuss des Publikums, der regelmäßig eingelöst wird. Keine großen Solistennamen, keine Best-of-Werke des Klassikkanons ziehen das Publikum an, sondern immer noch und einzig der dramaturgische Gedanke der Konzerte. Nur dieser wird vorab veröffentlicht – die Werke geschweige denn ihre Reihenfolge und die Namen der Künstler werden erst am Konzertausgang verteilt.
Das Festivalprogramm ist mit zwei Konzerten an fast jedem Tag prall gefüllt und verlangt den hauptsächlich ehrenamtlichen Festivalmachern alles ab, zeigt aber in erster Linie deren Organisationstalent, Begeisterung für die Sache und gutes Krisenmanagement; denn irgendwas ist ja immer.
Gravitationszentrum des Ganzen ist das Jugendzentrum KOMMA; hier werden nicht nur Organisatoren und Musiker verpflegt – auch bis weit nach den Konzerten –, sondern hier findet auch ein guter Teil der Konzerte statt, die ansonsten kreuz und quer über die Stadt verteilt sind, aber keinesfalls undurchdacht, sondern bewusst platziert in der jeweils dazu passenden Location: Im lokalen Jazzkeller gibt es eine zunächst stark klassikangehauchte Jamsession, die im weiteren Verlauf des Abends die Berührung zu Jazz, Elektro und Folk nicht scheut und später in eine Open Stage übergeht.
Die anfangs mit einer Nebelmaschine in dicke Rauchschwaden gehüllte und sehr gut besuchte Garage eines Autohauses im Industriegebiet ist Schauplatz einer Aufführung von Xenakis, Vaughan Williams und Bartók. Ist der Klang zu Beginn noch in Form der Musiker komplett im Raum verteilt, formiert er sich beim zweiten Werk zu drei Klanggruppen, um dann beim letzten Beitrag des Abends völlig fokussiert von der zentralen Bühne im Raum auszustrahlen. Einzig die (umbautechnisch notwendige?) Pause stört den sonst sehr schönen atmosphärischen Fluss.
In der vollbesetzten Stadtkirche begegnen sich Orient und Okzident. Die einzelnen Teile dreier Werke sind aufs Engste miteinander verwoben: Berios Folk Songs, der komplette elfteilige Liederzyklus Ayre des Zeitgenossen Osvaldo Golijov und das Streichquartett Tenebre von Bryce Dessner wechseln sich kontinuierlich ab, befruchten erfrischend die anderen musikalischen Ideen wechselseitig: ein mutiges Programm. Selbst bei (nicht erfolgter) Ankündigung des Einsatzes von 3D-Beamern wäre dieses Programm an vielen anderen Orten in Klassik-Deutschland ein Ladenhüter geblieben, ein Schuss in den Ofen geworden.
Auch von außen herangetragene Kooperationsideen finden sich im Programm: etwa Szenen der Frühe mit dem Klassikfestival Heidelberger Frühling oder ein Live-Radiofeature mit U21, dem Jugendmagazin von BR-Klassik, dass sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Maschine beschäftigt. Letzteres wird auf musikalischer Ebene allein mit überraschend guten Stilkopien klassischer Komponisten bestritten. Diese wurden von Computerprogrammen dank Algorithmen und jeweiliger Befütterung mit Werken von Bach, Schönberg etc. kreiert. Doch der verbindende Handlungsfaden, der anfangs witzig und unterhaltsam ist und Nachdenkenswertes über unser Verhältnis zu den uns umgebenden Rechnern mit auf den Weg gibt, mäandert später dahin, wird bruchstückhafter und zielloser – einer der wenigen schwächeren Momente im Festivalprogramm, verschmerzbar.
Im bereits erwähnten Jugendzentrum KOMMA findet neben der Abschlussfeier, der ein letzter spätabendlicher Kammermusikrausch vorangeht auch das aktuelle Education-Projekt Vision statt: Mit Esslinger Schülern, denen man die Freiwilligkeit ihrer Teilnahme nicht ansieht, aber beim musikalischen Einsatz abkauft, wurde ein Programm auf die Bühne gestellt, dass keinesfalls nur schmückendes pädagogisches Feigenblatt ist, sondern tatsächlich ein gemeinsames Projekt, bei dem den jungen Teilnehmern und ihren Talenten ernsthaftes Interesse entgegengebracht und Raum gegeben wird: Diese rappen, singen, erzeugen mit Handyklingeltönen raumgreifende Stimmung und demonstrieren Ausdauer beim solistischen Bedienen eines Vibraphons mit Streicherbögen. Nicht nur diese Idee sollte keine Esslinger Eintagsfliege bleiben, sondern raus in die Klassikwelt getragen werden, um in anderen Städten und Institutionen nachzuwirken!
Warum Esslingen?
Es bleibt die Frage, warum dieses Fest der Musik genau hier, in Esslingen, funktioniert. Mögliche Faktoren wären die überschaubare Größe der Mittelstadt, der Vorteil der kurzen (mittelalterlich schmucken) Wege, das Musikinteresse der sehr gut situierten und zuhauf wegen der Nähe zur Großstadt Stuttgart ansässigen Großbürgertums. Diese kunstbegeisterte Unterstützung manifestiert sich in vielerei Form von Finanzmitteln bis hin zu Räumlichkeiten. Und letztlich ist es wohl auch die Lücke, die ein fehlendes Kulturorchester offen lässt, beziehungsweise die daraus resultierende preiswert zu habende und dennoch überdurchschnittlich imagefördernde Unterstützung durch die Lokalpolitik: jung-dynamisch-hippe Kreativmeisterwerke zum Spottpreis, welcher Regionalvermarkter könnte da Nein sagen? Das PODIUM Festival ist ein Modell für die Zukunft, aber für welche?