„Schuld & Vergebung“ ist die große Überschrift, die das Mozartfest Würzburg in diesem Jahr geprägt und auch herausgefordert hat. Es ging in den rund 70 Veranstaltungen um zwei Pole, die im menschlichen Miteinander sowie im Widerstreit des eigenen Ichs verletzend-verheerend wirken, aber auch erlösend sein können. Um beides habe der „Seelenforscher Mozart“ gewusst, denn das „Helle und Dunkle, Einsamkeit und glückliche Momente, das Ich und das Wir“ seien, so Intendantin Evelyn Meining im Editorial zur Programmübersicht, „Kontraste, von denen die Musik Mozarts lebt“.
Und so stellte sich das Mozartfest dem Dunklen, spiegelte das Furchtbare der Tiefen in dem Fruchtbaren des Versöhnenden, spürte göttliche Funken auf und fand den „Garten Eden“ gleich nebenan, im ach so Alltäglichen.
Nur zwei, drei Schritte sind es vom Würzburger Marktplatz aus geradewegs ins Paradies. Auch für den Pianisten Kit Armstrong, für den das Gastspiel im „M PopUp“ etwas „ganz Neues“ ist. Gemeinsam mit einem kleinen, hoch aufmerksamen Publikum darf er sich für eine Stunde der Welt da draußen enthoben wissen. Das Schaufenster des vom Mozartfest als Ort der Begegnung genutzten Ladenlokals erlaubt den Blick hinaus, aber auch hinein. Nur einen Moment scheint der Künstler mit der Situation zu fremdeln, doch je länger je mehr überwiegt die Freude am Spiel und am Erläutern desselben auch. Kit Armstrong beschert seinem Ad-hoc-Auditorium eine feinste Auswahl an Werken. Er stellt Musik vor von William Byrd („eine Herzensangelegenheit“), Wolfgang Amadé Mozart (beim Rondo in a-Moll würde er im Konzertsaal „die Emotion ein bisschen größer machen“) oder Frédéric Chopin (die Ballade in As-Dur). Armstrong spiegelt mit Klang manche Seelenbilder, die in diesem fast wie ein Hortus conclusus anmutenden Raum auf Grün und Rosarot entfaltet werden.
Nach knapp 60 Minuten muss der Pianist weiter. „Meine Kollegen erwarten mich“, sagt er. Eine Probe steht an für den Abend mit den ersten beiden „Etappen“ einer „Expedition Mozart“, die er mit Gefährtinnen und Gefährten im prachtvollen Ambiente der Würzburger Residenz unternehmen will. Seit 2016, damals war er Artiste étoile, zählt Armstrong zu den wiederkehrenden Gästen des Mozartfests. Gibt seine Farbe, seine Idee von Musik und vom Musizieren hinein in ein tragfähiges Netz, bei dem sich das Eine mit dem Anderen verwebt, in langen Linien, mit Vor- und Rückgriffen und überraschend neuen Perspektiven. Solches schärft das Bild von Mozart, dessen Musik so ungemein innovativ sei, wie Evelyn Meining sagt: „Sie wird nicht alt. Das zeugt von seinen herausragenden kompositorischen Fähigkeiten. Sein Leben und Werk bieten einen reichen Fundus an thematischen Möglichkeiten.“ Mozart sei „von ungebrochener Aktualität“.
Und das ist zu hören. Vielfach, aber ziemlich eindrucksvoll auf eben jener „Expedition“, für die Kit Armstrong ein Team zusammengestellt hat, das nur auf den ersten Blick ein Orchester zu sein scheint: Drei Streichquartette – Hermès, Schumann und Minetti – und etliche weitere handverlesene Musikerinnen und Musiker, verständigen sich vom je eigenen Fokus aufs große Ganze. „Wir spielen ein Stück, nicht unsere Stimme“, so der „Expeditionsleiter“ im Interview. Bei jedem Schritt auf dem gemeinsamen Weg seien alle bereit, Neuland zu entdecken. Mozarts Musik entsteht gewissermaßen im Augenblick, allerdings auf der Basis einer intensiven Vorbereitung und einer Einstellung, die von einem gemeinsamen Ziel her intendiert ist.
Bei jedem der insgesamt vier Konzerte von Armstrong und Co. wird deutlich, wie einer dem anderen Raum gibt, wie unmittelbar sich das eigene Spiel auf das der Mitwirkenden auswirkt und wie wunderbar Mozarts Musik klingen kann, wie frisch und wach und aufregend gegenwärtig. Und wie schön, dass sich das Publikum diesem Aufbruch ins Unerwartete hat anschließen dürfen!
„Expedition Mozart“ wirkte wie ein Festival im Festival. Gleichfalls einen besonderen Platz im großen Mozartfest-Rahmen hat seit zehn Jahren das „MozartLabor“, ein Experimentierfeld, eingerichtet im Exerzitienhaus Himmelspforten. Der inhaltliche Schwerpunkt lag dieses Mal auf Oper und Gesang; mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten arbeitete auch der Artiste étoile dieses Jahres, Christophe Rousset, der als ausgewiesener Experte und Pionier der Alten-Musik-Szene gilt. Dass das „MozartLabor“ durchaus eine Goldschmiede für Kulturschaffende der Zukunft darstellt, zeigte sich besonders eindrucksvoll beim Abschlusskonzert in der Residenz. Hier rockten die Streicherinnen Marlene Penninger (Violine), Patrizia Batik (Viola) und Clara Lindenbaum (Cello) gemeinsam mit ihrem Mentor, dem Geiger Florian Willeitner, und einer Auswahl seiner Kompositionen den Kaisersaal. Im zweiten Teil war Zeit und Raum für eine passgenau choreographierte Opern-Gala mit den Sopranistinnen Karolina Bengtsson und Defne Celik, den Mezzosopranistinnen Martina Baroni und Barbara Skora sowie Bariton Sakhiwe Mkosana, am Flügel begleitet von Chiara Schmidt und Doriana Tchakarova. Der Applaus: rauschend, auch von Clarry Bartha. Die künstlerische Leiterin des DEBUT Klassik-Gesangswettbewerbs freute sich sichtlich an dem, was sie und Christophe Rousset gemeinsam mit Sänger und Sängerinnen erarbeitet hatten.
Das „MozartLabor“ stellt sich bewusst dem intellektuellen Diskurs und der kontroversen Diskussion. Zum Beispiel mit der Frage nach dem, was „Kunst in dunklen Zeiten“ vermag: zum Beispiel, wie Prof. Dr. Dieter Mersch ausführte, „dem Gestalt zu geben, was keine Gestalt hat“ – etwa in Klage und/oder Anklage. Diese Form des Ausdrucks zeigte sich etwa in der als Wandelkonzert angelegten Reflexion „Hell ist die Nacht“, die gleich vier Mal das Mutterhaus der Schwestern des Erlösers durchmaß. Dieses Kloster wurde am 16. März 1945 bei dem schweren Bombenangriff der Alliierten auf Würzburg zerstört. Im Keller überlebten rund 300 Schwestern, 200 Soldaten und etliche Zivilisten. Und so entfaltete sich bei „Hell ist die Nacht“ genau diese Spannung zwischen Schrecken und Bergung, Wehe und Wohl in einer atmosphärisch und künstlerisch dichten musikalisch-theatralen Installation. Das Konzept von Max Koch und Tamara Quick, 2021 Stipendiaten des Mozartfests, in seinen „Bildern“ auch Erlöserschwestern von heute eine Stimme zu geben, ging auf und unterstrich Texte (u.a. von Paul Celan und Zeitzeugen) und die Musik von Mozart, Schumann, Copland oder Ives mit zarter Würde.
„Hell ist die Nacht“ zählte zur Programmfacette „Unexpected“, in der auch das „Freispiel“ seinen Platz hat, ein Format, das sich über die Jahre etabliert hat und „zur Marke geworden ist“, wie Evelyn Meining sagt. Widmeten sich in diesem Jahr mit „Nimmer noch“ die Stipendiaten und Stipendiatinnen von 2023 unter Leitung von Hanni Liang dem Mozartfest-Motto „Schuld & Vergebung“, gab es im diesjährigen „MozartLabor“ bereits einen Fingerzeig auf das „Freispiel 2025“ im kommenden Jahr: Die Sektion Konzertdesign entwickelte gemeinsam mit Ivan Turkalj vom Künstlerkollektiv Pool of Invention eine Idee, wie sich Gut Wöllried thematisch bespielen ließe. Erstmals werden dann die Konzeptionierenden auch die Konzertierenden sein. Die Motivation ist hoch, der Anspruch auch.
„Wir brauchen Innovationsgeist“, betont Evelyn Meinig. Dieser sei wichtig, um als klassisches Musikfestival zu bestehen und die Zukunft mitzugestalten. Mit Mozart als Anfang und Ende und: Anfang!