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Auferstehen in der alten Mitte Europas

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Warschauer Herbst, kulturpolitischer Austausch und Konzerte
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Es wird mittlerweile zu guten Tradition: Während des Warschauer Herbstes, dem immer noch größten internationalen Festival für Neue Musik im ehemaligen Ostblock, trifft sich der Deutsche Musikrat mit Vertretern polnischer Musikorganisationen und weiteren Gästen verschiedener Länder, um sich über Zusammenarbeit und europäische Integration auszutauschen. Ziel ist es, gemeinsame Projekte in die Wege zu leiten und letztlich das Zusammenwachsen Europas auf musikkultureller Basis voranzutreiben. Dass ein durch vielerlei Schwierigkeiten gegangener und nun neu formierter Deutscher Musikrat (der frisch ernannte Präsident Martin Maria Krüger war ebenso zugegen wie der neue Vizepräsident Uli Kostenbader) unbeirrt dieses Ziel verfolgt, mag unterstreichen, welche Priorität diesem Austausch beigemessen wird. Beim jetzigen dritten Treffen entstand nun vielleicht zum ersten Mal nachhaltig der Eindruck, dass die Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen konkrete Gestalt annehmen.

Verschiedene Ebenen, das heißt, dass man sich sowohl darüber verständigte, wie Stellenwert, Rolle und Funktion der Musik gegenüber der EG in Brüssel vertreten werden sollen, dass man sich in Sachen der Rechteverwertung von Autoren näher kam, aber auch, dass direkte musikalische Projekte vor Ort realisiert oder für die nächsten Jahre ins Auge gefasst wurden. Von polnischer Seite (Jeremi Sadowski vom Polnischen Rat der Europäischen Bewegung) wurde darüber hinaus noch ein vom Musikrat unterstützter Aufruf an den Europäischen Rat eingebracht, Kultur und Erziehung nachdrücklich als entscheidende Kraft (als „vierte Säule" innerhalb eines inzwischen andere Begriffe heranziehenden Säulenmodells) der europäischen Integration miteinzubeziehen. Man will Vorstöße und Petitionen dieser Art in nächster Zeit bündeln und auf eine einheitliche Plattform stellen (siehe auch Text von Frank Kämpfer dieser Seite

Vielleicht zum ersten Mal hatte man dieses Jahr den Eindruck, dass Dinge effektiv in Bewegung geraten – denn Bedenken, gar Ängste sind zäh und bedürfen kontinuierlicher, nicht zuletzt fortgesetzt vertrauensbildender Arbeit. Auch Vereinbarungen unter Organisatoren (wie polnische Komponisten bei den Darmstädter Ferienkursen oder Dreiecksbeteiligungen zwischen Warschauer Herbst, dem Berliner UltraSchall-Festival und den österreichischen Klangspuren Schwaz) wurden für 2004 und 2005 getroffen.

 

Ein Modell dafür gab es schon dieses Jahr: das Ensemble der Polnisch-Deutschen Werkstatt für Neue Musik. Hier waren zirka 20 junge Musiker aus Polen und Deutschland zusammen gekommen, um unter der Leitung von Rüdiger Bohn von der Zeitgenössischen Oper in Berlin ein Konzert für den Warschauer Herbst zu erarbeiten. Es wurde zu einem der Höhepunkte des ganzen Festivals. Die jungen Instrumentalisten hatten Werke von Bettina Skrzypczak und der 25-jährigen Aleksandra Gryka, von Pierre Boulez, Annette Schlünz und Helmut Lachenmann erarbeitet. Dessen „Mouvement – vor der Erstarrung“ zählt fraglos zu den anspruchsvollsten Partituren der Moderne.

 

Dass die Aufführung nicht nur gelang, sondern dass sie außerordentlich spannend geriet, lässt vieles hoffen. Europäisches Zusammenkommen, man mag „oben“ Goodwill-Vereinbarungen treffen so viel man mag, erfährt nur Substanz und Leben, wenn es sich auf der Basis real vollzieht. Diese Basis wurde noch durch das Publikum erweitert. Im ausverkauften großen Lutoslawski-Konzert-Studio war wie übrigens auch sonst bei den Konzerten des Warschauer Herbstes zu einem Großteil junges Publikum versammelt, das reges Interesse (und viel Sachverstand) bewies. Das erfolgreiche Auftreten des Deutschen Musikrats beim diesjährigen Warschauer Herbst wurde durch ein weiteres Konzert am Finaltag abgerundet: Das in Köln ansässige Ensemble „Musikfabrik“ bot in gewohnter Souveränität Werke von Hans Zender, Helmut Zapf, Karin Haußmann, Klaus-Hinrich Stahmer – gewissermaßen als Spektrum gegenwärtigen deutschen Komponierens – und dazu als Uraufführung ein Sound-Video-Werk des jungen Polen Jaroslaw Mamczarski. Man will von Seiten des Deutschen Musikrats auf dieser Basis weiterarbeiten. Die Wichtigkeit solch gegenseitiger Unterstützung wird beim Warschauer Herbst immer wieder offenbar. Tadeusz Wielecki, der Leiter des Warschauer Herbs-tes, wirkt manchmal so, als ob er am liebsten alles hinschmeißen würde. „Da planst du ein Konzert, bekommst finanzielle Zusangen. Und wenige Wochen vor dem Konzert teilt man dir mit, dass die Gelder leider doch nicht kommen“, klagt er. Schadensbegrenzung wird nun betrieben: Als halbwegs glimpflich betrachtet es Wielecki, wenn der Ausfall vor der Öffentlichkeit noch verborgen bleiben kann, also wenn das Konzert noch nicht auf Plakaten gedruckt ist. Das ist freilich kein schöner Zustand. Wenn man dann aber ein in sich rundes und packendes Konzert erleben konnte, dann strahlt Wielecki, als ob er nichts lieber täte, als den Warschauer Herbst zu organisieren.

 

Mit Mängeln dieser Art umzugehen, ist in Polen immer noch eine Selbstverständlichkeit. Warschau als Drehscheibe Europas („genau in der Mitte zwischen Moskau und Paris“), das sieht heute anders aus als in den glänzenden Zeiten des Warschauer Herbstes, wo man im reglementierten realsozialistischen Umfeld wie ein Guckloch zu künstlerischen Ansätzen des europäischen Westens und der USA wirkte und die kreativen Kräfte des Ostens magnetisch anzog. Drehscheibe ist man geblieben, sie definiert sich heute aber anders.

 

ulturorganisationen vor allem aus westlichen Ländern bieten, nicht zuletzt im Hinblick auf den EG-Beitritt Polens im nächsten Jahr und im Sinne europäischer Integration, Projekte an. Aus dieser Angebotspalette heraus lebt der Warschauer Herbst, er ist wie eine Party, wo jeder etwas zu essen oder zu trinken mitbringt, worauf man gemeinsam feiert. Die Stimmung hierfür ist gut (auf das vorwiegend jugendliche Publikum wurde schon hingewiesen), die Programme freilich müssen auf diese Weise weitgehend unkoordiniert bleiben, sie hängen von den „Geberländern“ ab, an die von Veranstalterseite einzig der Wunsch herangetragen wird, ein neues Stück eines jüngeren polnischen Komponisten in die Abfolge zu integrieren (und Polen, das vermittelten die Konzerte nachhaltig, besitzt eine Fülle hoffnungsvoller junger Komponisten, denen freilich ein eher spärliches Angebot an in Neuer Musik erfahrenen Ensembles gegenübersteht). Die Fallhöhe ist naturgemäß hoch, von gesamtprogrammatischer Fokussierung kann keine Rede sein. In diesem Jahr hatten neben Deutschland Italien, Österreich, die Niederlande, Slowenien, Belgien, Frankreich und Kulturstiftungen der USA (man spürt Donald Rumsfelds Hinweis auf das „Neue Europa“) Beiträge geliefert. Der Warschauer Herbst entwickelt sich so zum Aufriss der internationalen Szene Neuer Musik und nicht zuletzt auch von ihren ästhetischen Prämissen und Schwerpunktsetzungen.

 

Hier ist weiterzudenken. Ein entgrenztes Europa – ein wirklich entgrenztes Europa – hätte Potenzen, die ein national vereinzeltes nicht zu entwickeln vermag. Vielleicht liegt in solchen Keimzellen einmal die Idee eines europischen Ensembles für Neue Musik begründet, das durch exorbitante Qualität und faszinierende Projekte Anreize für weit gestreute Aktivitäten „vor Ort“ schafft. Dass solche Botschaften gerade von Warschau ausgehen, also dem wohl am meisten von europäischer Geschichte betroffenen und geschundenen Ort, mag man als Chance verstehen.

 

Zwei weitere Ereignisse wären aus der Fälle der manchmal auch recht enttäuschenden Konzerte (wozu auch die Uraufführung von Wolfgang Rihms dünn spätromantischem „Gesangsstück“ mit dem amerikanischen Walter Verdehr-Trio zählte) hervorzuheben. Beide hatten, vielleicht auch dies ein Zeichen, mit Tod und Auferstehung zu tun. Da war das Pariser Ensemble Court-Circuit unter Pierre-André Valade, das zusammen mit der deutschen Sopranistin Sylvia Nopper die „Quatre chants pour franchir le seuil“ des 52-jährig verstorbenen Gérard Grisey aufführte. Es ist sein letztes Werk (1997–98), es ist ein Manifest menschlicher Vergänglichkeit und sich immerfort erneuernder Energien: Klang, der mit frenetischer Besessenheit zu Tiefe und Schönheit als untrennbarer Einheit vordringt. Das Publikum erhob sich aus Ehrfurcht vor dem Werk (und vor der grandiosen Gestaltung) applaudierend von den Sitzen, der Schlussteil musste wiederholt werden. Ähnliche Anerkennung wurde dann beim Abschlusskonzert Sofia Gubaidulinas Johannes-Passion zuteil. Sparsam in den Mitteln, enigmatisch in der Klangfindung, wurde Hoffnung im Leid offenbar. Hiermit setzte der Warschauer Herbst ein Zeichen: nicht zuletzt auch für sich selbst.

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