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Chor aus Schumanns Oper „Genoveva“. Foto: Killig/Dresdner Musikfestspiele

Chor aus Schumanns Oper „Genoveva“.

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Auffrischungsfestival für Sachsen

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Bericht von den 46. Dresdner Musikfestspielen
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Die von Jan Vogler geleiteten Dresdner Musikfestspiele sind die geregelt Unregelmäßigen unter den Spitzenveranstaltungen der klassischen Musik. Schon allein deshalb hat der Festivalmonat von Mitte Mai bis Mitte Juni in Sachsen große Bedeutung.

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Während in den Symphoniekonzerten der Sächsischen Staatskapelle und in den Großen Concerten im Gewandhaus zu Leipzig zwar hin und wieder Neues versucht, aber im Großen und Ganzen doch die Blockbuster von B (Bach, Beet­hoven, Brahms, Bruckner) bis M (Mahler, Mendelssohn, Mozart) die Hauptsache bleiben, hat Jan Vogler seine Konzept-Fühler näher am Puls der Zeit, ruft für die Dresdner Musikfestspiele viel Buntes aus, bringt fast von allem und damit für viele etwas. Dass die Dresdner Musikfestspiele über weite Strecken aus Konzeptsäulen mit wiedererkennbaren Ornamenten bestehen, fällt erst nach Besuchen mehrerer Festspieljahre auf. Der Cellist und Festspielleiter Vogler agiert mit erfolgreichen wie umsichtigen Marketingstrategien. Zwischen den Festspieljahren verteilt er kleine Leuchtpunkt-­Kampagnen und Überraschungen wie zum Beispiel seine CD-Einspielung der Cellokonzerte von Édouard Lalo (200.Geburtstag 2023) und Enrique Casals mit dem Moritzburg Festival Orchestra unter Josep Caballé-Domenech: Regionalfaktor, ein frisches jugendliches Image und eine große Neigung zu für Dresden unspezifischem Programm kommen da zusammen. Beide Werke klingen sinnlich, frisch und machen Lust auf physische Erkundung der Konzertorte. Image-Aufheller also im bes­ten Sinne für die sächsische Landeshauptstadt und deren Umland.

Aufgrund Voglers gewiefter Programmgestaltung kam es auch zu einem der letzten Auftritte des Star-Schlagzeugers Martin Grubinger kurz vor seinem Rückzug aus dem Konzertleben und einem Gastspiel der ihren 60. Geburtstag feiernden Geigerin Anne-Sophie Mutter. Es kommen auch langfristig geschätzte Klangkörper – die Münchner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Baye­rischen Rundfunks. Christian Thielemann dirigierte am Pult der Sächsischen Staatskapelle Mahlers Dritte, sein designierter Nachfolger Daniele Gatti trat mit dem Gustav Mahler Jugendorchester an zu Mahlers Erster und dem Adagio aus dessen unvollendeter zehnter Sinfonie. Beide dirigierten mit dieser Besetzung auch beim im Mai zeitgleich stattgefundenen Mahler Festival Leipzig. Omer Meir Wellber, erster Gastdirigent der Sächsischen Staatsoper für einen Mozart-Zyklus und Verdis „Nabucco“, gastierte mit der Filarmonica Arturo Toscanini mit Mikhail Pletnev und Festspielintendant Jan Vogler.

Das Festspielmotto „Schwarzweiß“ bezog sich auch auf den Schwerpunkt „Tastenspiele“ mit 19 Konzerten, dem „schwarz-weißen Zusammenspiel der Klaviatur“. Kontrastreich geriet neben politisch ambitionierten Projekten „An einem klaren Tag“, ein Auftragswerk des US-amerikanischen Komponisten Sean Shep­herd nach einem Gedichtzyklus von Ulla Hahn, mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg nach Konzerten in New York und beim Musikfest Hamburg. Kent Nagano dirigierte, Mitwirkende kamen aus dem Dresdner Kreuzchor, der Audi Jugendchor­akademie, den Hamburger Alsterspatzen und The Young ClassX.

Rund 60.000 Besucher steigerten die Platzausnutzung auf 91 Prozent mit Ticketeinnahmen in Höhe von 1,75 Millionen Euro. Die 46. Dresdner Musikfestspiele konnten damit an 32 Festspieltagen und 22 Spielstätten die Erfolgszahlen von 2018 und 2019 erreichen. Besondere Freude zeigte die Leitung über den großen Anklang der Stadtraumprojekte wie das Mitsingkonzert am 3. Juni auf der Brühlschen Terrasse. Bedeutenden Sonderstatus haben Gastspiele wie das Programm „Eden“ mit der Mezzosopranistin ­Joyce DiDonato und Il Pomo d’Oro, weil Liederabende, Recitals und Vokalkonzerte internationaler Spitzenstars in Sachsen eher selten sind.

Generell gut besucht waren die Konzerte im Kulturpalast. Das akus­tische Fluidum erweist sich jedes Mal erneut als berückend, auch – Motto „Schwarzweiß“ – mit dem wenig erfreulichen Ausblick auf die Riesen-Baustelle am Neustädter Markt. Unter Daniel Harding zauberten die Streicher einen berührend weichen wie klaren Beginn von Dvořaks sinfonischer Dichtung „Die Waldtaube“, durchlüftete und durchflutete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks die subtile und dabei sehr melodische Partitur mit weich-wachem Großeinsatz. Der Solist Kirill Gerstein erhielt für Brahms’ zweites Klavierkonzert Ovationen.

Einer latenten Kampfansage gleich kam die mit Ovationen gefeierte konzertante Aufführung von Wagners „Rheingold“ am 14. Juni mit Concerto Köln und dem auf Originalinstrumenten spielenden Festspielorchester der Musikfestspiele. Gestartet hatte das Projekt, dort allerdings mit Concerto Köln als einzigem Klangkörper, bereits im November 2021 in der Kölner Philharmonie.

Als umfangreiches künstlerisch-wissenschaftliches Projekt gelangt Richard Wagners Musiktheater-Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“ bis 2026 mit allen Teilstücken zu den Dresdner Musikfestspielen, am 9. Mai 2024 folgt „Die Walküre“. Im Herbst 2023 soll eine Wagner-Akademie Experten und Interpreten aus der ganzen Welt in Dresden zusammenbringen. Dass ausgerechnet der mit historisch informierter Aufführungspraxis sonst wenig befasste und vor allem in Nischen-Repertoire erfolgreiche Kent Nagano als Ehrendirigent von Concerto Köln in Dresden seine Präsenz bei den Musikfestspielen verstärken wird, fällt auf. Es wird sich erweisen, ob die unmittelbare Nähe zur Sächsischen Staatskapelle, bei der Chris­tian Thielemann noch im Winter 2023 zwei Ring-Zyklen dirigiert hatte, dem Projekt nach Köln neue Facetten und Diskurs-Erweiterungen abgewinnen wird.

Als konzeptionelles Highlight im Quadrat von Ortsbezug, Weltklasse-Ensembles, aufregendem Hörerlebnis und Repertoire-Exoten erwies sich die konzertante Aufführung von Robert Schumanns einziger, in Dresden entstandener und 1850 in Leipzig uraufgeführter Oper „Genoveva“. Erwartbar entlockten Helsinki Baroque Orchestra und Aapo Häkkinen der oft als schwierig bis spröde bezeichneten und sogar in Schumanns Heimat Sachsen weithin gemiedenen Partitur faszinierende Schärfen und virtuos verdichtete Klangballungen. Carolyn Sampson gab eine schon im irdischen Jammertal mit einer himmlisch hellen Stimme begnadete Genoveva, Marie Seidler anstelle der lange angekündig­ten Vesselina Kasarova eine Hexenfigur mit sehr heutiger Perforation, sang Johannes Weisser den Grafen Siegfried in einem Schumanns Melodienfluss prachtvoll zerfetzenden wie intelligenten Energieschub. Blässlich dagegen, weil am für ihn falschen Platz, war der hervorragende Evangelisten-Tenor Marcel Beekman als zwischen erotischer Gier und vernich­tendem Hass sich erschöpfender Golo. Zu berichten wäre noch von einem Jazz-Finale mit dem Trompeter Wynton Marsalis & Jazz at Lincoln Center Orchestra zum Abschluss der 46. Musikfestspiele. Im von einem dichten Flechtwerk aus aufgefrischten Traditionen, Regionalbezügen und von langfristigen Teamplayern kreierten Saisonfarben positionieren sich die Dresdner Musikfestspiele mit dem universellen Anspruch Leonard Bernsteins auf die „unendliche Vielfalt der Musik“. Schon allein deswegen sind sie für die sächsische Musiklandschaft eine Energiespritze mit dortzulande teils seltenen und desto wichtigeren Spurenelementen.

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