Wer träumt nicht davon, gerade im Sommer, am Strand zu liegen, sich ganz nach Laune träge von Wellen überspülen zu lassen oder aktiv ins kühle Nass zu stürzen? Von Klangwellen, denen sich der Zuhörer mehr oder weniger aktiv aussetzt, träumt das Berliner Projekt „ohrenstrand“. Dieses Bild von Genuss, von freier Entscheidung und auch von Zufall, das der Titel hervorruft, macht zunächst stutzig, passt es doch so gar nicht zu dem, was man sich gemeinhin unter ernster Neuer Musik vorstellt. Im steifen Konzertsaal, der ehrfürchtiges Stillsitzen und -schweigen gebietet, scheint sie hier jedenfalls nicht zu spielen.
Ohrenstrand“ gehört zum soeben bundesweit ins Leben gerufenen „Netzwerk neue Musik“, dessen fünfzehn Projekte bis zum Jahre 2011 von der Kulturstiftung des Bundes mit der stattlichen Summe von acht Millionen Euro gefördert werden. Ein in seinem umfassenden Anspruch einmaliges Unterfangen, vergleichbar vielleicht nur dem Produktivitätsanschub, den die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nach Kriegsende in der Wahrnehmung ihres Bildungsauftrags leisteten.
Doch die Bedingungen sind gänzlich andere geworden. Mehr und mehr ist die bildungsbürgerliche Schicht, der man die Avantgarde auf intellektuell-analytische Weise nahe bringen konnte, im Schwinden begriffen. Musikalische Vermittlung bekommt so eine neue, um vieles ernstere Bedeutung. Endlich soll der Berg zum Propheten kommen: Statt das Publikum mit der schwierigen Materie zu überfordern, sollen „seine Skepsis und seine Erwartungen ernst genommen“ werden. Dabei soll die Substanz der Werke nicht angetastet, nicht nach seichter Popularisierung geschielt werden. Im Gegenteil will man an Bewährtem anknüpfen: In Berlin haben sich neun Institutionen der Hoch- und Off-Kultur verabredet, ein Klangstrandbad zu betreiben, von der Akademie der Künste über die „Zeitgenössische Oper“ oder die „singuhr-hoergalerie“ bis zum experimentellen Club „ausland“. Da die Projekte die Spezifika der jeweiligen Region aufgreifen sollen, ist „ohrenstrand“ vielleicht weniger pädagogisch ausgerichtet als der Freiburger „MehrKlang“, weniger jugendlich-experimentell als „nimm!“ in Moers oder mit der Auftragsvergabe an mehr oder weniger renommierte Komponisten beschäftigt als Essen oder Dresden. Hier werden Klang-Raum-Erfahrungen auf dem Pfefferberg mit wissenschaftlicher Gesprächsbegleitung erkundet, sind die „biegungen“ der Berliner und New Yorker Performance-Kultur „im ausland“ zu verfolgen, während im Elektronischen Studio der Technischen Universität „Wellenfelder“ zu erleben sind. Merkwürdigerweise treten die beiden vormals westlichen Universitäten als Partner auf, während sich die Musikhochschulen vornehm zurückhalten.
Es geht aber um mehr als die Präsentation neuster künstlerisch-technisch-medialer Errungenschaften mit Vernetzung zur Club/DJ-Kultur, für die Berlin eine lebendige Szene zu bieten hat. Am „Zentralstrand“, in den musikalischen Salons in Prenzlauer Berg, lädt ein „HörQuartett“ zur Diskussion des soeben Gehörten ein, „Hörspaziergänge mit Blinden“ lenken die Aufmerksamkeit auf die akustische Wahrnehmung des Stadtraums, und ein Ideen- und Realisierungswettbewerb bietet der Architekturstadt Berlin jährlich Entwürfe einer „temporären, mobilen Architektur“ an, die alltägliche Räume für Musikereignisse umgestalten. Vernetzung der Künste findet auch statt, wenn die Zeitgenössische Oper Berlin endlich ihren interdisziplinären Wettbewerb „operare“ für Regisseure, Komponisten, Videokünstler, Choreographen, Drehbuch- und Hörspielautoren realisieren kann. Mit den Erfahrungen musikalischer Realisierungen können sich jugendliche und erwachsene Laien auseinandersetzen, wenn das Konzerthaus Berlin für die Uraufführung von Georg Katzers Revue „Keinort“ ab Herbst 2008 unter anderem einen Sprecherchor sucht.
Das Netzwerk der Ideen, das seine auch auf Ausläufer bis nach Brandenburg führt, breitete seine ganze Vielfalt in der Auftaktveranstaltung aus. Das Kammerensemble Neue Musik Berlin, das mit seinen Initiatioren Thomas Bruns und Juliane Klein schon zu Wendezeiten für Unangepasstheit stand, setzte mit seiner 4. „House Musik“ ein ganzes Quartier unter Musik: Rund um den Kollwitzplatz, der gerade von legerer Bohème in schickes Bürgertum übergeht, dienten die unterschiedlichsten Orte als unkonventionelles, gerade durch ihre Alltäglichkeit neue Erfahrungen zulassendes Ambiente.
Auf der Grünanlage über den ausgedienten Wasserspeichern fiel Junko Wadas Tanz-Performance zum feinen Geräusch geriebener und geschlagener Steine unter den Freizeitaktivitäten auf dem Rasen lagernder, Rad fahrender, Ball spielender Menschen noch kaum auf. Der Raum als Klangkörper wurde darauf im Innern des Großen Wasserspeichers unmittelbar erfahrbar, als labyrinthisch angelegte, geheimnisvoll brummende und summende Klanginstallation „Echolocation“ von Aernoudt Jacobs. Im Ingenieurbüro Hennes spielte Daniella Strasfogel „Blank“ für Violine solo von Christopher Fox, in seiner meditativen Kargheit der funktionalen Raumausstattung entsprechend und sie überhöhend. Das verspielte Gegenteil zu dieser Strenge war das Trio „Verstrijken“ von William Engelen: in der Privatwohnung der Musikpädagogin Silvia Rutkowski darf der Klarinettist Winfried Rager im Wohnzimmer seine Tonleitern üben und den in die Küche gepferchten Musikerinnen Kirstin Maria Pientka (Viola) und Ringela Riemke seine Anweisungen geben: „Ein klares D bitte“.
Doch was der auch als bildender Künstler hervorgetretene Engelen in minuziös geführten Tagebüchern entnommenen Rhythmen von „Schlafen, Essen, Arbeiten“ gefasst hat, schlagt sich auf Dauer doch als genau jene Banalität nieder – „Hausmusik“ eben. Viel anregender die „Lokalmetamorphose“ von Stefan Streich: Das Publikum beobachtet durch die großen Schaufenster der Galerie Isabel Bilbao die Straße, deren Geräusche ein draußen stehender „Spieler“ über Kopfhörermikrophon in den Raum holt, modifiziert und wieder hinausschickt. Ein Spiel der Wahrnehmungsebenen beginnt, einem Zoobesuch gleichend: Wer sind wirklich die Beobachter, wer die Beobachteten? Kommentare der Vorübergehenden, Schrittgeräusche, Kindergeschrei und Autolärm fügen sich von ihrer unmittelbaren Hervorbringung getrennt zu einer spannenden Spontanpartitur.
Konzerte von nicht mehr als zwanzig Minuten Dauer mit Eintrittspreisen um zwei Euro, durch mehrfache Wiederholung zudem frei kombinierbar, Flanieren zwischen den Spielorten an einem schönen Frühsommerabend, ein reichhaltiges kulinarisches Angebot und nicht zuletzt ein Stadtviertel, dessen Geschäfte und Büros, Kneipen und Galerien sich plötzlich als Orte veränderter Wahrnehmungsmöglichkeiten zeigten, Musik und Musiker zum quasi Anfassen boten – das alles vermochte die Schwellenangst gewaltig zu verringern.
Das Motto „Aus Alt mach neu“ bezog sich dabei nicht nur auf die baulichen, wechselvolle Historie spiegelnden Veränderungen der Gegend, sondern auch auf viele Werke von hoher Qualität, die sich mit Transformation und Neuinterpretation eigenen und fremden Materials auseinandersetzen. Als „Hommage à Guillaume Dufay“ bezeichnet Matthias Spahlinger sein Duo „Adieu m’amour“, eine fragil in Fragmenten wispernde Streichermusik, weniger geglückt die fast schon grotesk verzerrten „Gesualdo Translations für Stimme und Mehrkanal-Klangsystem von Alessandro Bosetti. Zum Wiederhören verlockten dagegen das schrille und doch sehr formbewusste Bläserstück „Fliegen fliegen?“ von Annette Schlünz und das klangschwelgerisch-komplexe „Telegramm von einer See“ von Ana Maria Rodriguez, das sich mit den eigenartig technisch gehaltenen Naturschilderungen des Poeten Ron Winkler befasst. „Aus Alt mach Neu“ galt ebenfalls für diese eigens für die „House Musik“ angefertigte zweite Version, und natürlich besonders für den brandneuen „ohrenstrand“-Konzertsaal im alten Pfefferberg, in dem Gérard Griseys „Périodes“ mit überwältigender Energie erklang.