In letzter Zeit gab es mehrere Einzelgänge und Neupaarungen der als unverwüstlich geltenden Opernzwillinge „Cavalleria rusticana“ von Pietro Mascagni und „Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo. Am Theater Ulm kam das Verismo-Doppel jetzt wieder in einer vor szenischer und musikalischer Energie explodierenden Lesart heraus. Weder der erste noch der zweite Teil des Abends sind etwas für schwache Nerven. Christian von Götz entwickelte schaurig bezwingende Studien über die Bestie Mensch im Faschismus und deren eigene Abgründe. Alle Musiktheater-Kräfte des Theaters Ulm zogen begeistert mit. Großer Applaus.
Nach der Pause, am Beginn von „Der Bajazzo“, reißt Nedda das Papier mit den Parolen „Credere – Obbedire – Combattere“ herunter. Dem Zwang folgt die Enthemmung: „Pagliacci“ ist also Physical Theater pur. Der Chor des Theaters Ulm (einstudiert von Nikolaus Henseler) gibt ein wunderbar subtiles Publikum bei der Commedia, welche das aus dem Ruder laufende Triebleben in der kleinen Theatergruppe spiegelt. Christian von Götz zeigt diese Analogien mit drastischer Perfidie im Theater auf dem Theater als zivilisatorischen Disziplinierungsversuch, bis alle durchdrehen. Hier killt nicht der Prinzipal Canio aus chronischer Eifersucht seine Frau Nedda, sondern sie ihn. Jetzt, nachdem Nedda die Männerbande los hat, ist sie so frei wie die Vögel, deren ungehemmten Flug sie im ersten Akt besingt.
Von Götz ist in Lukas Holls schwarzem Raum, der durchaus einem Erotik-Studio für härtere Gangarten ähnelt, ganz nah dran an der Kulturströmung des Naturalismus vor 1900. Toll, wie die Darsteller das mitmachen: Allen voran die als Liebende und Mordende brillierende, hetzende, faszinierende Nedda von Maria Rosendorfsky, die nach der Atemnot unter Wasser in der Badewanne noch immer den langen Atem für die hohen Töne der am oberen dramatischen Rand ihres Spektrums liegenden Partie hat. Die Duett-Szene mit Silvio (Oddur Jónsson mit virilem Kuschelbariton) steigert sich zur akrobatischen Manifestation von Zärtlichkeit im eiskalten Klima der Obsessionen. Milen Bozhkov in der Titelpartie singt das berühmte „Lache, Bajazzo“ mit schmetterndem Trauerflor, verliert danach in von Götz’ den Mordspieß umdrehender Deutung seine Führungsrolle.
In „Pagliacci“ ist von Götz von jedem Realismus verlassen und rückt die Polarität des Menschseins zwischen Kultur und basic instincts ins Zentrum: Aber Dae-Hee Shin gestaltet im Parkett den großen Prolog vom Herz, das in jedem Mimen schlägt, mit der gleichen Noblesse wie in „Cavalleria“ den Parteifunktionär Alfio. Weil der vorgesehene Sänger des Beppe absagen musste, stürzte sich Chor-Tenor Takao Aoyagi mit szenischer und musikalischer Verve ins Fetisch-Getümmel.
Bei allem szenischen Tumult gibt das der Musik viel Raum. Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm trifft den Nerv der Partituren. GMD Felix Bender verklammert die sich hetzende Überfülle von Leoncavallos Einfällen und das permanent sinnliche Fluidum, das sich dieser von Jules Massenet angeeignet hatte, zu sattem Drive. Ganz anders ist der Sound in „Cavalleria“: Bender drängt Mascagnis Blaskapellen-Tölpeleien, von anderen Dirigierenden oft schamhaft verdrängt, an die musikalische Oberfläche. Er hat keine Berührungsängste zu Mascagnis fast schlagerhaften Tongebilden. „Cavalleria“ ist ein Brutkasten der Banalitäten und dabei wirkungsmächtig genug, um Hörer zu umschmeicheln.
Die Handlungswende in „Cavalleria“ reizt von Götz so bipolar aus wie in „Pagliacci“. Hier geht es um die Rehabilitation des Womanizers Turiddu, der von der inzwischen verheiraten Lola nicht einmal zu Ostern die Finger lässt, obwohl er mit der hart abgewimmelten Santuzza mehr als zarte Bande knüpfte. Ja, Turiddu ist ein leidenschaftlicher Lover, von dem sich Lola im Bewusstsein aller Konsequenzen ekstatisch nehmen lässt. Darüber schwebt die Parole „Credere, obbedire, combattere“ (Glauben, gehorchen, kämpfen), die das ganze Gemeindeleben systemkonform zusammennietet. Es wird nicht gekämpft, sondern Hälse geschlitzt. Viel Blut spritzt weit.
Turiddu hinterlässt er ein Konvolut in einer Mappe mit dem Hammer-und-Sichel-Emblem, bevor ihn die Faschisten erledigen – und, was so nicht im Libretto von Giovanni Targioni-Tozzetti und Guido Menasci nach Giovanni Vergas Erzählung steht, die sinnliche Lola dazu. Schon als Turiddu ein Mussolini-Bild von der Wand reißt und beschmutzt, klafft hinter den Kerlen und den verhetzten Frauen das schwarze Raumloch. Letztlich unwesentlich, ob Triebhaftigkeit oder totalitärer Drill den Menschentieren das Leben zur Hölle macht.
Es war ein Abend der ehrlichen und oft bewegenden Sängerleistungen. Nach leicht schmächtigem Einstieg in der Romanze gibt Markus Francke den Intellektuellen Turiddu in barbarisierter Umgebung vielschichtig, mit tenoraler Wärme und Glanz. Hinter den Brillengläsern und der Stirn brennt es bei diesem Turiddu wie im Unterleib. Ihm ebenbürtig: I Chiao Shih als Santuzza mit großen Augen, großen Gesten und nicht minder großen wie schwelgenden Tönen. Nadine Secunde bleibt als Mamma Lucia in dieser physischen Hölle eine stille Beobachterin und auch stimmlich unauffällig. Maria Wester gibt eine sinnen- und stimmstarke Lola.
Das Theater Ulm ist viel näher am Ungeist dieser beiden Opern als viele folkloristische Bilderbuch-Deutungen. Hier entsteht der dramatische Zündstoff allerdings nicht der Hitze einer mediterranen Sonne, sondern aus der dumpfen Schwärze des Menschseins.