Nach der erfolgreichen Premiere 2020 setzte das 2. Kammermusikfestival Regensburg wieder klare programmatische Akzente. Diesmal im Zentrum: der russische Komponist Nikolai Roslawez (1881–1944). Juan Martin Koch berichtet:
Da war es endlich so weit: Ein großes Werk des russischen Komponisten Nikolai Roslawez machte auf beeindruckende Weise plausibel, warum die Veranstalter ihn in den Mittelpunkt des 2. Kammermusikfestivals Regensburg gerückt hatten. Das Atos Trio stürzte sich mit Überschwang und Kompetenz in das vierzigminütige vierte Klaviertrio von 1927, das sich als ein zwischen satzübergreifender Motivcharakteristik, flächig-atmosphärischer Färbung, prägnanter Rhythmik und ausfransenden Klangströmen faszinierend schillerndes Ungetüm entpuppte.
Am bezwingendsten wirkten dabei die Mittelsätze: ein von düsterer Motorik angetriebener Traumspuk auf der einen, ein Ringen um Melodie inmitten harmonischer Auflösungserscheinungen auf der anderen Seite. Anschließend brachten Annette von Hehn (Violine), Stefan Heinemeyer (Cello) und Thomas Hoppe (Klavier) mit einer hinreißend luftigen und innigen Deutung von Schuberts B-Dur-Trio wieder Ordnung in die von Roslawez auf anregende Weise in Verwirrung gebrachte Hörwahrnehmung.
Bis zu diesem fünften Konzert des Festivals war die Begegnung mit Roslawez eher punktuell bzw. aufgrund einer eigenwilligen Programmpräsentation etwas unbefriedigend verlaufen. Der Reihe nach: Innerhalb eines sensationellen Auftritts von Tamara Stefanovich (Klavier), Matthias Schorn (Klarinette) und Tobias Feldmann (Violine) waren Roslawez’ „Poème lyrique“ und Nocturne, jeweils für Violine und Klavier, eher aparte Randerscheinungen. Gegenüber Aram Khachaturians süffig-folkloristischem Trio, Arnold Schönbergs Fantasie op. 47 (überragend: Feldmann und Stefanovich), dem Soloklarinetten-Bravourstück „The Mime“ von Arthur Lourié (Schorn wunderbar chaplinesk) und den großartigen „Kontrasten“ von Béla Bartók hatte Roslawez naturgemäß einen schweren Stand.
Tags darauf verfiel die pianistisch atemberaubende Tamara Stefanovich leider auf die Idee, ihr Skrjabin-Roslawez-Szymanowski-Recital ohne Pause als einen großen „Klangraum“ zu präsentieren. Die vorab rasch mündlich durchgegebene Änderung der Werkabfolge gegenüber dem gedruckten Programm erleichterte die Hörorientierung durchaus nicht, und so nahm man als Erkenntnis lediglich mit, dass Szymanowskis etwas luftigerer, französisch orientierter Klaviersatz (12 Etudes op. 33) von Skrjabin (u.a. Sonate Nr. 9) stärker zu unterscheiden ist als Roslawez (u.a. Sonate Nr. 2).
Roslawez’ Drittes Streichquartett und die fulminante Kammersymphonie
Diese Abhängigkeit von Skrjabin (Ableitung eines Tonsystems von einem Akkord her) stellte Andreas Wehrmeyer, Leiter des Sudetendeutschen Musikinstituts, dann in seinem zur Mitte des Festivalprogramms angesetzten Roslawez-Vortrag heraus. Auch in der Bewertung von dessen Rolle im sowjetischen Kulturleben setzte Wehrmeyer durchaus andere Akzente als der Programmhefttext von Marina Lobanova. Ein Podiumsgespräch der Beiden wäre wohl ziemlich spannend verlaufen.
Ein weiteres schwergewichtiges Werk von Roslawez hatte das gut aufgelegte Mandelring Quartett im Programm. Sein drittes Streichquartett zeigte neben einem anregenden Changieren zwischen flirrenden Nachtschatten, pastos-kantablem Ausdruck und satztechnischer Transparenz auch die Grenzen seines Stils: Bisweilen scheint die hermetische Harmonik sich selbst im Weg zu stehen, Motivsequenzierungen suggerieren einen Vorwärtsdrang, dem wenig formale Spannung gegenübersteht. Vielleicht setzte Roslawez deshalb einen nachdenklichen Schluss als Fragezeichen hinter diesen Einsätzer.
Ganz anders seine ausladende Kammersymphonie von 1934/35, mit der das Festival einen fulminanten Schlusspunkt setzte: Der Konzertort, eine Hallenkirche mit entsprechender Akustik, unterstrich dabei – dem Anspruch des Werks durchaus angemessen – das Symphonische gegenüber dem Kammermusikalischen. Das 18-köpfige, aus hochkarätigen Solisten und Orchestermusikern zusammengestellte Ensemble brachte unter der klar strukturierenden Leitung von Moritz Gnann die Originalität von Roslawez’ Entwurf zum Leuchten. Hier scheint dieser sich von Skrjabin gelöst zu haben und füllt die vierteilige Form souverän mit phantastisch instrumentierten, wiederkehrenden Motivcharakteren, ohne sie harmonisch zu überfrachten. Dass dieses Stück nicht viel öfter zu hören ist, ist wohl nur der Trägheit und Sattheit des Konzertbetriebs geschuldet.
Zeitgenössische Akzente
Einen zeitgenössischen Schwerpunkt setzte das Festival mit einem Konzert des StimmGold Vokalensembles, das unter anderem Werke aus der Taufe hob, die im Rahmen des vom Verein „Unternehmen Gegenwart“ unter dem Motto „Nahsicht“ zum vierten Mal ausgetragenen Kompositionswettbewerbs ausgezeichnet worden waren. Den stärksten Eindruck machte das mit dem dritten Preis ausgezeichnete Stück „Makula“ von Afamia Al-Dayaa. In Anspielung auf den „gelben Fleck“, das Areal mit der höchsten Dichte an Sinneszellen im Auge, werden Klänge zwischen Atemgeräusch, Textartikulation und instrumentalen Beimischungen mal scharf, mal unscharf gestellt. Die Balance zu Violoncello (Christoph Pickelmann) und Perkussion (Antonino Secchia) war hier überzeugender als im Gewinnerstück von Graham Lack („Fremde Ferne“), bei dem der Choranteil etwas blass im Hintergrund blieb. Von Bastian Fuchs stammte „Herz, o Herz“ (2. Preis), ein süffiger, vom Vibraphon umschmeichelter neoromantischer Satz.
Gerahmt wurde das durch Zwischenapplaus und drei separate Urkundenüberreichungen ein wenig zerstückelte Programm mit dem eigens für den Anlass komponierten Dreiteiler „Farben der Glocke“ von Enjott Schneider. Vor allem die beiden ersten Sätze erzeugten in der dem Schlagwerk mitunter als personifizierte Glocken an die Seite gestellten Stimmbehandlung aparte Klangwirkungen. Das Ensemble StimmGold war mit makelloser Intonation und homogener Vokalmischung voll auf der Höhe der harmonisch mitunter durchaus anspruchsvollen Werke (weitere stammten von Pascal Martiné, Graham Buckland und Gerson Batista).
Eine Uraufführung hatte es schon zur Festivaleröffnung mit der Camerata Goltz gegeben. Dabei fiel Steven Heeleins absichtsvoll in fragile Einzelteile zerfallender Viertelstünder „zerbrochen…verbunden“ für Streicherensemble allerdings ein Stück weit der bewusst abseits gängiger Konzertorte gewählten „Location“ zum Opfer. Das Kellergewölbe eines Innenstadt-Clubs war für Brittens „Simple Symphony“ und Bartóks Divertimento akustisch durchaus reizvoll – ohne Hall, aber mit schönem Wumms in der Basstiefe –, die Nebengeräusche (Lüftung etc.) übertönten aber einen Großteil von Heeleins Klangvision.
Akzente setzte das 2. Kammermusikfestival Regensburg wiederum mit den spätabendlichen Jazzimprovisationen des Lorenz Kellhuber Trios und erstmals auch mit Schulbesuchen von Festivalensembles. Die dritte Ausgabe unter dem Motto „Zwischentöne“ ist für den 18. bis 25. September 2022 geplant.