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Klassik und Moderne in Hitzacker
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Die „Sommerlichen Musiktage Hitzacker“ haben es im Ringen um die Gunst des Publikums nicht leicht, sich gegen das nahe Schleswig-Holstein-Musikfestival zu behaupten. Durch eine geschickte Werbung ist Letzteres mehr in aller Munde als Hitzacker mit seinem Ruf, ein traditionsreicher Hort der Kammermusik zu sein (1946 begründet). Wenn die Stuhlreihen in Hitzacker auch ein wenig lichter wurden, so läßt sich der künstlerische Leiter Professor Claus Kanngiesser nicht beirren. Er holt international renommierte Interpreten, auch solche jüngeren Alters, nach Hitzacker und steht mit ausgesuchtem Programm für Kontinuität und Qualität. Was den Ort, der gerne der „Grüne Hügel der Kammermusik“ genannt wird, in besonderer Weise anziehend macht, das ist auch die Lage auf bewaldetem Bergrücken hoch über steilem Elbufer. Das Ambiente und die ganze Atmosphäre sprechen in Hitzacker an. Des weiteren wirbt die alljährliche Präsentation von Werken zeitgenössischer Komponisten für den Ort. Oft eilen sie als „Composer in Residence“ in die Musikdomäne an der Elbe. In den Vorjahren fiel die Wahl auf große Namen, unter anderem auf György Ligeti, Aribert Reimann, Boris Blacher, Sofia Gubaidulina, Oliver Messiaen, György Kurtág und Witold Lutoslawski. In diesem Jahr erging die Einladung an Einojuhana Rautavaara, den Nestor der finnischen Gegenwartsmusik. Seine mystische Gedankenwelt führt in labyrinthische Räume, die zwar wesenhaft romantisch angelegt sind, sich aber einer festen Einordnung entziehen. Lutz Lesle schreibt dazu in einem Fachbeitrag: „Rautavaara ist kein Architekt, der am Reißbrett strenge Zwölfton-Gebäude errichtet, sondern mehr ein Gärtner, der seinen Zwölftonreihen Dreiklänge aufpflanzt, harmonische Symmetrien züchtet und dem Eigenwillen der Musik folgt“. Von sich selbst sagt der Komponist: „Ohne mich an die Methodik Schönbergs oder Weberns zu halten, gewinne ich in meiner Arbeit doch eine strukturelle Logik“. Sie ist auch in der Kammermusik des Finnen übersichtlich gefügt und nachfühlbar. Das war seinen in Hitzacker vorgestellten Werken anzumerken. An einem weiteren Abend stellten Marco Rizzi und Thomas Brandis (Violine), Stefan Fehlandt (Viola) sowie Françoise Groben und Katharina Troe (Violoncello) Rautavaaras „Unknown Heavens“ („Unbekannte Sphären“) vor, ein Streichquintett, das die letzten Worte des Sonetts „La Mort des Pauvres“ aus der berühmten Gedichtsammlung „Les Fleurs du Mal“ von Charles Baudelaire zum Vorwurf nimmt. Das 1997 komponierte Streichquintett bot eine Sternstunde des Festivals, von den Interpreten mit musikantischem Feingefühl in Szene gesetzt. Ebenso ansprechend präsentierte sich Rautavaaras frühe und noch ganz der Tradition verhaftete Klaviersuite „Fidd-lers op. 1“, von der finnischen Pianistin Laura Mikkola frisch und bewegend, wenn auch ziemlich kräftig ins Spiel gebracht. Hitzacker bot, seiner Tradition folgend, ein breites Spektrum kunstvoller Musikinterieurs. Es verlangte einigen Mut, Goethes Briefroman „Werther“, von Gaetano Pugnani um 1790 in Musik gesetzt und von Alberto Basso rekonstruiert, einem aufgeklärten Publikum anzubieten, einmal, weil die Form des Melodrams eine Kunst für sich und selten zu hören ist, und zum zweiten, weil der Zugang zu Werthers Gefühlswelt nach den gesellschafts-politischen Umwälzungen zweier Jahrhunderte nicht gar so leicht herzustellen ist. Hinzu kam, daß das Melodram in der reifen Sprachkunst Jörg-Uwe Schröders (als Werther) und der Musik des Tschechischen Philharmonischen Kammerorchesters Prag unter Hermann Breuer zwei zwar für sich hervorragende Pole auf dem Podium sah, daß eine nahtlose Abfolge hingegen nicht bruchlos zustandekam. Trotzdem, die Hoffnungen und sehnsuchtsvollen Erwartungen Werthers, vor allem die rasende Liebe zu seiner Idealgestalt, vermochte der Mime in klaren Vokabeln in die Gegenwart zu holen. Rolf Sudbrack als Erzähler fügte dem Melodram gedankenschwere Akzente bei. Erfreulicherweise geben die Musiktage alle zwei Jahre jungem Nachwuchs die Chance zu öffentlicher Präentation. In einer sonntäglichen Matineé wurde das Ergebnis des 13. Internationalen Kompositionswettbewerbs für Kammermusik vorgestellt. Preisverleihung und Uraufführung der von der Jury ausgezeichneten Werke fanden vor angestammtem Publikum statt. Den ersten Preis erhielt Sascha Janko Dragicevic (geb. 1969) für „Malerba“ („Unkraut“), eine sehr skurrile Musik für Klavier, Violoncello, Klarinette und Posaune. Den zweiten Preis konnte Jong-Tae Ha (geb. 1965) für die von leisen Tönen erfüllte Komposition „Das Neue Jerusalem“ in Empfang nehmen. Das Werk wurde von Violine, Klarinette, Horn und Violoncello vorgestellt. Luca Belcastro (geb. 1964) erhielt für seine Komposition „Caminanda hacia el mar“ („Wanderung zum Meer“), einer für Flöte, Klavier, Stimme und Violoncello geschriebenen Vertonung eines Gedichtes des Chilenen Pablo Neruda, den dritten Preis und zusätzlich und verdienterweise noch den Publikumspreis des Tages. Interpretiert wurden die preisgekrönten Werke vom „oh ton-Ensemble Oldenburg“. Auf jeden Fall anzumerken: An einem Streichquartettabend begegnete man dem brillanten Spiel des Pariser „Ysaye-Quartett“, einem Ensemble, das Perfektion in Reinkultur bot. Werke von Ernest Chausson, Henri Dutilleux und Ludwig van Beethoven erreichten einen Gipfelgrat, der vornehmste Klarheit ausstrahlte. Ein ausgewogenes Maß von klassischer und moderner Musik füllte die Sommerlichen Musiktage an. Das angestammte Publikum akzeptierte in den letzten Jahren mehr und mehr auch die Musik des 20. Jahrhunderts, ein Gewinn allemal.

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