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Auszug aus dem Turm

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Die Donaueschinger Musiktage 2000
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Donaueschingen 2000, das war ein Rundlauf durch Stilarten, Ausrichtungen, Suchbewegungen, Verirrungen, Verwirrungen und Ausblicke. Auch etwa die Debatten vor dem europäischen Parlament wurden, in einer Installation von Thomas Schulz, künstlerisch verwertbar. Das freilich ist es, was ein Festival zeitgenössischer Musik leisten soll, das sich anschickt die Scheuklappen ästhetischer Enge endgültig abzustreifen. Pluralismus heißt ja nicht das Kuddel-Muddel der Unsicherheit, er ist Zustandsbeschreibung einer Gegenwart, die die sichere Bank nicht mehr kennt. Musste man vor Jahren noch befürchten, dass sich Donaueschingen gewissermaßen einen eigenen künstlichen Klang züchtet, so durchbrachen diesmal zumindest die stärksten Arbeiten jegliche Vorgefasstheit. Und davon gab es manch höchst Beachtliches.

Der Organisator der Musiktage Armin Köhler hatte diesmal im Gegensatz zu den vorangegangenen Musiktagen kein Motto ausgegeben. Doch er sprach davon, dass sich dennoch Hierarchien im gegenwärtigen Musikschaffen gleichsam von selbst herausgebildet hätten. Als maßgeblichen Punkt benannte er hierbei die Rolle des Raums, also das Ausloten dieser Dimension im kompositorischen wie interpretatorischen Prozess. Nun ist dies freilich längst keine sich selbst genügende Kategorie mehr. Auch wenn immer wieder die Dimension des Raumes im schöpferischen Prozess Berücksichtigung findet, nimmt sie doch gerade in den stärksten Arbeiten den Stellenwert des Akzessorischen ein. Und die beiden Kompositionen, die mit besonderer Intensität darauf rekurrierten, nämlich Mark Andrés Orchesterkomposition „Modell“ und Jörg Mainkas großdimensioniertes Werk „Tutti“, zählten keineswegs zu den Kompositionen, denen man den Charakter eines Durchbruchs zu neuen Dimensionen, zu neuen Hörweisen bescheinigen wollte. Beide wirkten leicht angegilbt, technisch verbraucht – was wieder einmal nachdrücklich auf die längst eingesehene Tatsache verwies, dass nur materiales Denken (auch wenn es sich an Äußerem, etwa atomaren Zerfallsprozessen bei André oder architektonischen Strukturen bei Mainka, reibt) nicht mehr hinreicht, neue Musik aus ihren Engen hinaus zu führen.

Doch ein anderer, mindestens ebenso nachdrücklich auf sich aufmerksam machender Punkt, charakterisierte weit nachhaltiger die diesjährigen Donaueschinger Musiktage. Hier wurden für mein Dafürhalten wirklich neue Pforten aufgestoßen. Musik nämlich wird geschrieben, die nachdrücklich den Kontakt zu gesellschaflichen Bedingungen, zu Formen gegenwärtiger Existenz sucht. Neue Musik findet sich nicht mehr ab mit dem Status quo von Unhinterfragbarkeit, sie bringt sich ein, stellt sich, treibt an eigene existenzielle Grenzen (das ist wohl auch so bei den meisten starken Arbeiten der letzten 50 Jahre, doch eine Woge von technizistischen Binnendebatten war darüber hinweg geschwappt und klemmte häufig die Luft zu solcher Befreiung ab). Der Klang ist Mittel, er transportiert Haltung und Stellungnahme. Das tut gut in der immer noch dünnen Luft der Moderne.

Direktheit und Härte bis jenseits der psychischen Schmerzensgrenze boten zum Beispiel Olga Neuwirth zusammen mit dem Filmemacher Michael Kreihsl im Projekt „The Long Rain“ nach einer Science-Fiction-Erzählung von Ray Bradbury. Belastung durch unaufhörlich prasselnden Regen, quallig aufweichende Gestalten und Gehirne, die nicht mehr mit wollen. Hierzu trat die Musik attackenartig in Korrespondenz. Klang und Bild entwarfen eine packende Probe des Aushaltbaren, sie gingen der Frage nach, wie viel eines Reizes verarbeitbar ist, wann er umschlägt in Mechanismen der Abwehr oder der Verweigerung. Und dass immer wieder, wie durch Fenster Ausblicke auf Regionen der Stille, des sanften Erlebens, der Trockenheit geworfen wurden, vertiefte nur die Situation der existenziellen Auswegslosigkeit. Olga Neuwirth hat fraglos eine ihrer beklemmendsten Partituren vorgelegt. Klar, hart, unausweichlich.

Es mag bezeichnend für die ganzen diesjährigen Donaueschinger Musiktage sein, dass im gleichen Konzert, vor den terroristischen Attacken Kreihsls und Neuwirths ein Chorstück nach Thoreau des Pragers Martin Smolka stand, das in seiner Natur- und Schönheits-Begierde polar entgegengesetzt war: „Walden, The Distiller of Celestial Dews“. Smolka merkte an: „Das Stück basiert auf David Thoreaus berühmtem Buch ‚Walden‘. Es ist eine Art Manifest über ‚Zurück zur Natur‘ und über die Vereinfachung der Welt – aber nicht nur dies, sondern auch über die Wiederbelebung der inneren Kraft menschlichen Seins, über die Verbindungen zu den natürlichen Quellen, zum Universum. Das ganze Buch spricht davon und meine musikalische Sprache versucht auch zu vereinfachen, hin zum Singen, zu schönen Klängen, jedoch ohne musikgeschichtliche Klischees zu wiederholen.“ Es waren wunderbar einfache, tonal simple Linien, zugleich horrend schwer vorzutragen. Denn sie waren mikrotonal leicht verschoben, zum Beispiel durch Sechsteltöne, die dem SWR-Vokalensemble unter Rupert Huber alles abforderten. Thoreaus Forderung nach sich selbst entäußernder Einfachheit, die zugleich ein Extrem an innerer Kraft verlangen, zog auf diese Art direkt in die musikalische Sprache ein.

Solche Ansätze mit vielerlei Akzenten und Gewichtungen, weiteten immer wieder die Donaueschinger Musiktage ins Offene. Zu verweisen wäre etwa auf Manos Tsangaris‘ „Relief oder die Buchstabenrevolte“, ein virtuos witziger Komplex aus Sprachverwirrung, aus Reiz-Reaktions-Mechanismen zwischen geschriebenem, gesprochenem und klanglich verunsicherten Texten. Ein Eintauchen in eine Welt der Fragezeichen, die ihre Lichtkegel immer wieder hinter die Oberflächen-Realität des Vertrauten richtete. Ähnlich verunsichernd, auch was die Funktion orchestralen Spiels betrifft, wirkten Peter Ablingers „Quadraturen V“. Sie waren computerverdichtete Verhebungen von Phrasen aus Eislers DDR-Nationalhymne, die die Kontur der Musik wie in einer umgegossenen Wachsform ablieferten und Fragen nach der Unkenntlichkeit des Kenntlichen stellten. Schlagworte wie die der Komplexität stellten sich in dieser merkwürdig andersartigen, fremd-nahen Orchesterkomposition auf ganz neue Art.

Vinko Globokar, der das große Abschluss-Stück lieferte, hob diesen Gesichtspunkt auch in seinem Programmtext hervor: „Komponieren heute sucht mehr denn je Halt und Kraft an einem von Außen kommenden Aspekt.“ Globokar griff – wie übrigens jüngst auch der Komponist Claus-Steffen Mahnkopf bei der Münchener Biennale – auf Walter Benjamins Deutung von Paul Klees Angelus Novus zurück und schrieb ein in Collagen und Überlagerungen verzweifeltes politisches Bild der Zerstörung Jugoslawiens durch bornierten Rassenhass – und wohl nicht nur Jugoslawiens. Freilich: Manches hier wäre wohl noch aggressiver und härter in der Darbietung zu wünschen gewesen, Sylvain Cambreling und das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zeigten gegenüber der verbitterten Partitur noch zu viel Zurückhaltung – wie übrigens auch der verschämt über den Köpfen des Publikums an die Decke gehängte Stacheldraht, der eigentlich nach Globokars Vorstellung das Publikum in zwei unversöhnliche Sektionen hätte trennen sollen.

Globokar jedenfalls schrieb eine hochverdichtete Partitur für zwei Orchester, die mit dem gleichen Vokabular hantieren, zugleich aber unversöhnlich voneinander getrennt sind. Raumkomposition ist das schon, aber es ist weit mehr. Soll man sagen, dass die Politik das eingeholt hat, was die musikalische Avantgarde modellhaft entwickelte? Das getrennte Nebeneinander von Systemen, die nicht mehr gemeinsam agieren können; die mit militärischem Schritt, mit Klageliedern, mit Alarm und Drill ähnliches durchmachen und dennoch keine Gemeinsamkeit mehr finden? Globokars gnadenloser „Engel der Geschichte“ jedenfalls nimmt rückhaltlos Bezug auf unsere Realität. Und die Musik, indem sie von ihr spricht, wächst zum erschütternden Bild.

Solche Konkretionen sind wichtige Schritte, der Neuen Musik wieder eine Relevanz zu verleihen, die über das Interesse an der nackten Struktur hinaus geht. Neue Musik, so konzipiert, so angetrieben, tritt spürbar aus der Region der ehemals selbstverordneten Isolierung heraus. Donaueschingen hat in vielseitigem Aufriss diese Zeichen der Zeit erkannt und nachdrücklich darauf verwiesen.

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