Die Snare Drum schlägt regelmäßige Pulse und unterbricht diese zugleich in wechselnden Abständen mit wilden Trommelkaskaden. Die unvermutet losrasselnden Quintolen weichen dann ebenso abrupt wieder den starren Viertelschlägen.
Enno Poppes neueste Ensemblekomposition „Körper“ etabliert ein metrisches Korsett und bricht dieses gleichzeitig mit aller Kraft auf. Der Klangkörper gibt sowohl seinen erhöhten Herzschlag zu erkennen als auch seinen unbändigen Drang, auf monströse Weise neue Organe und Extremitäten auszubilden. Von den Fellinstrumenten des ersten Perkussionisten wandern die Schläge zu Metall- und Holzidiophonen der Perkussionisten zwei und drei, so dass klangfarblich charakteristische Abschnitte entstehen. Gegen die Pulsationen jaulen dann exaltierte Melodielinien von E-Streichern und Keyboards. Schließlich befreit sich das Ensemble vom rhythmischen Raster und steigert sich zu ekstatischen Ballungen wie außer Rand und Band.
Der Dualismus von strickt getakteter und freigelassener Zeit hat einen konkret-realen und einen expressiv-metaphorischen Hintergrund in der Corona-Pandemie. Infolge abgesagter Dirigate hatte Poppe während des langen Lockdowns 2021 mehr Zeit zum Komponieren als sonst. Sein Stück wuchs zu einem veritablen viersätzigen Zyklus mit insgesamt 885 Takten und einer Dauer von gut vierzig Minuten. Die bipolare Disposition der Partitur inkorporiert außerdem die sowohl psychische als auch politische Zerreißprobe zwischen äußerlich verordnetem Stillstand und innerlich wachsender Anspannung. Die Musik protokolliert mit ihrer explosiven Mischung aus autoritärem und anarchischem Gestus – nicht programmatisch, sondern künstlerisch autonom – die brisante Situation vereinzelter Individuen während der lähmenden Gleichförmigkeit vieler Monate bei innerlich zunehmender Aufgewühltheit und Aggressivität. Der Rhythmus, mit dem man mit muss, provoziert den gegenstrebigen Impuls, sich protestierend über Reglements hinwegzusetzen – zumindest in Fantasie, Kunst, Musik.
Poppes „Körper“ ist eine Hommage an das Ensemble Modern und dessen Vielseitigkeit. Das Stück verwandelt die Formation zu immer wieder anderen Klangkörpern von unterschiedlicher Herkunft, Stilistik und Spielkultur: Freejazz, Bigband, Balkan-Banda, arabischer Takht und zügellos improvisierende Chaos-Truppe. Auch „Frank Zappa and The Mothers of Invention“ könnte man heraushören. Drei Schlagzeuger sowie doppelt besetzte Hörner, Trompeten, Posaunen, Klarinetten und Saxophone pumpen unter Leitung des Komponisten reichlich Energie in die Kölner Philharmonie. Dazwischen tönen vier elektrische Streichinstrumente mal rockig mit Verzerrer oder vokalartig glissandierend wie mit menschlichen Klagelauten wimmernd. Der zweite Satz beginnt indes ganz matt und leise mit sanften Soli, als sei nach dem Toben alle Kraft aus dem verausgabten Leib gewichen. Durch bizarres Wechselspiel zweier quer über die Bühne piepender Keyboarder groovt sich der dritte Satz dann jedoch wieder ein, bis sich die aufgestaute Spannung in konvulsivischen Zuckungen Bahn bricht. Am Ende des vierten Satzes sinken schwebende Harmonien in Vierteltonschritten langsam tiefer, bis sich alle Instrumente plötzlich im selben Ton treffen und das Stück schlagartig zu Ende ist, als schlüpfe es in seine Ausgangszelle zurück wie eine vielköpfige Hydra wieder in ihr Ei.
Der begeistert beklatschten Uraufführung durch das ausgezeichnet spielende Ensemble Modern gingen die „National Anthems“ von Maja S. K. Ratkje voraus. Die 1973 geborene norwegische Komponistin, Sängerin und Live-Elektronikerin hatte eine Künstliche Intelligenz-Software mehrere Wikipedia-Einträge über verschiedene Staaten zu neuen Texten über Fantasiestaaten collagieren lassen. Wahlweise per Beamer projiziert oder verlesen erhielt das Publikum Informationen zu Ländern wie „Hanyst“, „Igmondero“, „Mathuna“ oder „Empire Jazzic“. Man erfuhr etwas über deren Geschichte, Staatsorgane, Wirtschaft, Sprache, Geographie, Bevölkerung. Den amüsanten Irritationen, dass etwa ein Königreich in Südamerika entstand, dann aber plötzlich in Afrika lag, folgte jedoch bald die Ernüchterung, dass alles bloß Nonsens war und auch blieb, als sei wirklich egal, ob wir in einer Demokratie, Monarchie, Oligarchie, Autokratie oder Diktatur leben.
Wie einst Stockhausens „Hymnen“ remixte die Komponistin auch reale Nationalhymnen. Sie sang und pfiff ins Mikrophon, generierte elektronische Sounds und verkettete im Ensemble melodische Floskeln und rhythmische Modelle zu einem einlullenden Endlosgedudel. Dass Ratkje die beliebigen Text- und Klangfolgen selber nicht ernst nahm, sondern launig-abfällig kommentierte, eröffnete dem Publikum keinen neuen Zugang, sondern allenfalls der Komponistin eine Hintertür zu verlegener Selbstdistanzierung. Dabei hätte es durchaus spannend sein können, all die manipulativen Suggestionsmittel von Nationalhymnen zum Zweck patriotischer Begeisterung, religiöser Emphase und militärischer Schlagkraft zu entlarven. Doch wer das einer KI überlässt, produziert nur geist- und formlosen Unsinn. Da der Textschwall letztlich ohnehin gleichgültig blieb, war schließlich auch egal, dass alles undeutlich gesprochen beziehungsweise zu schnell projiziert wurde und man nur die Hälfte verstand.