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Foto: Ralf Herzig
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Bach im Hangar – Die Neuruppiner Aequinox-Musiktage erkunden alternative Spielorte und Programmformate

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Wenn Tag und Nacht genau gleich lang sind, gerät Neuruppin ins Klingen. 60 Kilometer vor den Toren Berlins läuft dann drei Tage das Aequinox Festival, das nach der astronomischen Konstellation der Tag- und Nachtgleiche benannt ist.

Über einen „richtigen“ Konzertsaal verfügt Neuruppin allerdings nicht. „Der Name Aequinox ist daher auch Programm“, meint der Lautenist Wolfgang Katschner, künstlerischer Leiter des Festivals. „Im Mittelalter gab es zum Phänomen der Tag- und Nachtgleiche allerhand philosophische Ausdeutungen, die sich um Ideen des Ausgleichs drehen. Auch mit unserem Festival wollen wir eine Balance zwischen den Stilen und Spielorten finden.“

Als Konzertsaal für alle Gelegenheiten dient die zur „Kulturkirche“ umgewandelte Pfarrkirche, wo Simone Kermes zum Festivalauftakt Opernarien von Händel sang. Begleitet wurde sie von der Lautten Compagney unter Wolfgang Katschner.

Als „Operndiva“ reizt Kermes jeden Affekt aus. Sie singt mit geballten Fäusten oder Tränen in den Augen, tänzelt auf glitzernden 15-Zentimeter High-Heels über das Podium. Das spricht auch ein Publikum an, das sich ansonsten per Kopfhörer nicht unbedingt barocke Arien aus dem Internet zieht.

Chancen und Grenzen alternativer Spielstätten

Die Chancen und Grenzen alternativer Spielstätten erkundete eine Diskussionsrunde unter Leitung von Harald Asel. Im Spannungsfeld zwischen einfallsreicher Dramaturgie und bloßem Event bewegen sich auch die Aequinox-Musiktage, die bereits das riesige, kahl-funktionale Amtsgericht oder eine Fabrikhalle bespielt haben.

Wenig umstritten sind Aufführungen in historischen Räumen, in denen schon früher musiziert wurde. „Die historische Aufführungspraxis und der jeweilige Ort beleuchten sich dann gegenseitig“, meint Andrea Palent, die Leiterin der Musikfestspiele Potsdam-Sanssouci.

Die Diskussion drehte sich vor allem um Bauten, die schon ein paar Jahrhunderte alt sind. Das liegt auch an der besonderen Situation im Land Brandenburg, wo hunderte von Dorfkirchen kaum noch mit Gemeindeleben erfüllt werden. Thomas Drachenberg, der Landeskonservator Brandenburgs, begrüßt deren alternative Nutzung. „Architektur ist angewandte Kunst. Wer ein Gebäude nutzt, der wird es pflegen“, meint der Denkmalpfleger. „Im besten Fall kann das Denkmal durch die neue Nutzung seine Geschichte erzählen.“

Ein Beispiel dafür bietet der einstige Kornspeicher Neumühle in Alt-Ruppin, der heute ein Lager mit Antiquitäten beherbergt. Aequinox zieht dort regelmäßig mit Konzerten ein; das Publikum sitzt dann auf gedrechselten Stühlen und samtenen Sofas.

Diesmal las hier der Schauspieler Gustav Peter Wöhler aus den in den 1660ern entstandenen Tagebüchern des Londoner Flottenbeamten Samuel Pepys. Dazu erklang Musik aus Pepys’ Lebzeiten – Location, Lesung und Musik ergeben ein rundes Gesamterlebnis. Dementsprechend betont Andrea Palent: „Eine Veranstaltung muss vom Inhalt aus geplant werden. Am Anfang steht die Frage: Wie kann gerade dieser Raum mit Leben gefüllt werden?“

Freilich muss das Ganze auch finanziell abgesichert sein. Der Perkussionist Peter A. Bauer macht darauf aufmerksam, dass ein knappes Budget in der freien Szene durchaus kreativ beflügeln könne. Andrea Palent, die auch die Geschäftsführung des Potsdamer Nikolaisaals innehat, bemerkt dazu: Ein großer, regelmäßig bespielter Saal sei grundsätzlich rentabler als ein kleinere historische Spielstätten.

Einig ist man sich in der Runde darüber, dass neuartige Konzertorte eher ein jüngeres und weniger klassikaffines Publikum anlocken. Dazu fällt Egbert Simons, dem Präsidenten des von Aequinox bespielten Landgerichts, ein: „Ich könnte mir sogar ein Konzert bei vollem Knastbetrieb vorstellen.“

Ähnlich außergewöhnlich ist der Einfall der Aequinox-Veranstalter, in einen Hangar des ehemaligen russischen Militärflugplatzes von Neuruppin zu ziehen. Aus Anlass des Tages der Befreiung vor 70 Jahren las Fritzi Haberlandt aus Walter Kempowskis „Echolot“, einer Collage aus den Stimmen zahlreicher Kriegszeugen. Die kühle, von nackten Betonrippen überwolbte Halle ist für dieses ernste Thema ein passender Ort.

Schwierigkeiten hat der Besucher jedoch, Kempowskis Zeugnisse vom 8. Mai 1945 mit den dazwischen dargebotenen geistlichen Bach-Arien zusammen zu bringen. Beides rührt doch an sehr verschiedene Gefühlswelten. Zuweilen ergeben sich extreme Kontraste, wenn etwa den haarsträubenden Schilderungen eines Lazaretts die Kaffeekantate folgt.

Dass das Aequinox-Festival mit seiner Suche nach unkonventionellen Spielorten und Programmen auf dem richtigen Weg ist, zeigt der Andrang: Die Besucher-Auslastung lag in diesem Jahr bei 97 Prozent.

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