Mit der „Johannespassion zu dritt“ hat sie vor zwei Jahren zusammen mit Benedikt Kristjánsson Furore gemacht. Nun präsentierte Elina Albach mit dem Ensemble Continuum Berlin in der Nürnberger Sebalduskirche Bachs h-Moll-Messe als „Missa miniatura“. Juan Martin Koch berichtet von einem zwiespältigen Abend.
„Die Cembalistin Elina Albach katapultiert die kanonischen Werke Johann Sebastian Bachs ins 21. Jahrhundert.“ Es ist immerhin nicht das Musikfest ION selbst, das mit diesem etwas fragwürdigen Marktschrei auf die Bearbeitung von Bachs h-Moll-Messe als „Missa miniatura“ hinwies. Es war der Bayerische Rundfunk, der das Konzert live als Videostream übertrug und den Mitschnitt weiterhin im Netz bereit hält (Link zu BR Klassik).
Nein, Bachs Werke brauchen kein Katapult, aber ein kreativer Umgang mit ihnen kann zweifellos die Sinne für ihre singuläre Qualität und ihre spirituelle Kraft schärfen. Dies hatte Elina Albach schon mit der von Benedikt Kristjánsson konzipierten „Johannespassion zu dritt“ unter Beweis gestellt, die im ersten Pandemiejahr 2020 zu einem der überzeugendsten Livestream-Formate avancierte. Diese stand beim diesjährigen Musikfest ION erneut auf dem Programm, gespannt war man aber vor allem auf ihr neues Projekt.
Weniger radikal als die Johannespassion reduziert die Dirigentin, die das Ensemble Continuum Berlin vom Orgelpositiv aus leitet, die Besetzung der h-Moll-Messe. Dabei ist die solistische Ausführung der Chorstimmen seit Anfang der 1980er Jahre keine Sensation mehr. Wohl aber darf konstatiert werden, welchen Qualitätssprung 40 Jahre Gesangsausbildung in diesem Sektor gebracht haben. Dazu genügt es, sich einmal wieder Joshuas Rifkins seinerzeit Furore machende Aufnahme anzuhören, die mit ihrer mitunter prekären Intonation durchaus historisch wirkt.
Makellos dagegen die Leistung von Viola Blache, Kristen Witmer (Sopran), Tobias Knaus, Alex Potter (Countertenor), Benedikt Kristjánsson (Tenor) und Sebastian Myrus (Bass), die einen scheinbar mühelosen, geschmeidigen Chorklang erzeugten und auch die Solosätze gut gestalteten. Instrumental teilten sich Joosten Ellée (Violine), Lambert Colson (Zink), Johanna Bartz (Traversflöte), Liam Byrne (Viola da Gamba), Daniel Rosin (Violoncello) und Philipp Lamprecht (Schlagwerk) die anfallenden Begleit- und Soloaufgaben. Wirklich neue Klangfarben ergab das nur selten, dann nämlich, wenn die Marimba- oder Vibraphontupfer Lamprechts an Präsenz gewannen oder er mit umgehängter Pauke von hinten aus dem Kirchenschiff nach vorne schreitend das „Et incarnatus est“ in einen Kondukt verwandelte.
Den weitreichendsten (im Programmzettel nicht kenntlich gemachten) Eingriff stellten einige gestrichene Sätze dar: Christe und zweites Kyrie, das Gratias agimus im Gloria, im Credo der eröffnende Satz und das Et in unum Dominum sowie die Wiederholung des Osanna. An ihre Stelle traten von Thomas Halle gesprochene Texte des (im Programm nicht genannten) Schweizer Schriftstellers Jürg Halter. Deren Reflexionsniveau blieb allerdings enttäuschend weit hinter dem zurück, was Bach allein mit Tönen an innerer Resonanz hervorzubringen vermag, und kam über mit wortreicher Emphase geäußertes Zweifeln an Glauben oder Weltfrieden und Verzweifeln an einer den Planeten unbewohnbar machenden Menschheit nicht hinaus. Als sinngemäß die Rede davon war, die Texte strapazierten möglicherweise die Geduld des Publikums, war prompt ein geflüstertes „stimmt!“ zu vernehmen… In Bachs 30 unerhörten Adagio-Takten des Confiteor vor dem triumphalen Hereinbrechen des Et expecto steckte jedenfalls mehr Nachdenkenswertes als im gesamten Textvortrag.
Die musikalische Seite der gleichwohl anregenden, gut 100 Minuten dauernden Aufführung hatte mit einigen Balanceproblemen zu kämpfen. So traten im solistischen Chorsatz eher zufällig Einzelstimmen hervor, während einzelne Instrumente im Tutti komplett (Traversflöte) oder über weite Strecken untergingen (Mallets und Orgelpositiv). Im Domine Deus erwies sich wiederum die Gambe als zu schwach, um in einen hörbaren Dialog mit der Solovioline zu treten, welche die beiden Flöten des Originals ersetzte. Im Quoniam tu solus Sanctus waren Flöte und Vibraphon (nur stellenweise trat die Violine hinzu) ein zu leiser Ersatz für das Corno da caccia, während Gambe und Cello an keiner Stelle die Prägnanz der vorgesehenen Fagotte erreichten. Das Hauptmanko bestand allerdings in der durchweg zu schwach besetzten Basslinie, was der komplexen Harmonik die Bodenhaftung nahm.
All dies sind Eindrücke von einem zentralen Platz in der sechsten Reihe aus. Was von den vielen in zerbrechliche Regionen sich zurückziehenden Passagen weiter hinten im weiten Schiff von St. Sebald noch zu vernehmen war, kann nur mit einer gehörigen Portion Skepsis vermutet werden. In einem kleineren Raum mag von dieser Bearbeitung eine stärkere Kraft ausgehen.
Eine solche erreichte die Nürnberger Aufführung so richtig erst mit dem Agnus Dei. Die vokale Finesse und zurückhaltende Dringlichkeit, mit der Alex Potter diesen Satz gestaltete, war überwältigend. Aus einem Erker antwortete Joosten Ellées Violine, was eine wunderbare Raumwirkung ergab. Sehr überzeugend steigerte sich dann im Dona nobis pacem der zunächst nur vom Orgelpositiv begleitete Chor zu einem eindringlichen Ruf nach Frieden.