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Médée im gelben Kleid inmitten eines Bauzaun-Quadrats bewacht von Soldaten.

Magdalena Kožená (Médée), Ensemble. Foto: Ruth Walz

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Barocker Psychothriller mit Regie-Kollaps: „Médée" bei den Berliner Barocktagen

Vorspann / Teaser

Die Barocktage 2023 widmen sich insbesondere dem Mythos der Liebenden, Flüchtenden und Rächerin Medea. Neben der Wiederaufnahme von Luigi Cherubinis „Médée“ mit Marina Rebeka und der einmaligen Aufführung von Georg Anton Bendas Melodram „Medea“ mit Meike Droste und der Akademie für Alte Musik bildet die Neuproduktion von Marc-Antoine Charpentiers musikalischer Tragödie „Médée“ (Paris 1693) den Mittelpunkt dieser Barocktage-Ausgabe. Peter Sellars’ Inszenierung gerät zum leichtfertig-hohlen Anspruch eines Antikriegsstücks. Das großartige Ensemble – an der Spitze mit Magdalena Kožená in der Titelpartie, der Haute-Contre Reinoud Van Mechelen als Jason und Carolyn Sampson als Créuse – wurde gefeiert. Sir Simon Rattle gestaltete mit dem Freiburger Barockorchester nobel und präzise.

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Médée befindet sich hinter Gittern. Damit wollte Peter Sellars allen flüchtenden, vergewaltigten und geopferten Frauen ein Denkmal setzen. Doch angesichts der aktuellen Kriege und Verschärfungen der Weltlage bleibt dieses Gourmet-Spektakel der Berliner Staatsoper Unter den Linden halbhohle Theater-Behauptung. Die ihre Arme hochreißenden und stampfenden Wilden in Fleischfarben bei Médées Beschwörung gemahnen an Narrative, welche die Zauberin, Bruder- und Kindermörderin Médée in Beziehung zu einer vor-rationalen Zivilisationsstufe setzen. Unter Frank Gehrys schwebenden Objekten nehmen sich die Army-Monturen von Camille Assai für die im altgriechischen Korinth aufmarschierenden Gardeofiiziere unpassend schneidig bis adrett aus.

Diese Produktion gerät weder eindringlich noch dringlich. Und sie gibt den fulminant gestaltenden Sängerinnen und Sängern leider kaum den angemessenen Rahmen für das, was ihnen Thomas Corneille, der Bruder des französischen Spitzendramatikers, und der vor allem als Sakralkomponist tätige Marc-Antoine Charpentier in seiner einzigen Tragédie pour musique für Paris (1693) an rhetorischen Gewissensprüfungen auferlegte. Beauftragt hatte der Sonnenkönig Louis XIV., aber zu Lebzeiten hatte Charpentier gegen das übermächtige Vorbild Lully keine Chance.

Regie wird Werk und Aktualität nicht gerecht

Denn diese Médée ist weitaus genauer, reflektierter, reflektierender und subtiler gezeichnet als die meisten „Medea"-Opernadaptionen des späten 18. und 19. Jahrhunderts. In genau gemeißelten Etappen vollzieht sich mit Versen, Deklamation und Instrumentation Médées Entwicklung von der Liebe zum Liebesverzicht, vom Racheplan zur Rachetat und dem Bewusstsein der damit zwangsläufig einhergehenden psychischen Selbstvernichtung. Auch die anderen Figuren agieren auf vergleichbar intensivem Diskursniveau: Der schöne Held Jason beklagt sein Schicksal, zu viel geliebt zu werden. Créuse gibt ihrem von Vater Créon hingehaltenen Verehrer Oronte mit berückend emotionalen Worten den Laufpass. Charpentiers und Corneilles Tragédie erweist in ihrer breiten Anlage aus Mikro-Rezitativen, Mikro-Arien und den hier meist gestrichenen Ballett-Divertissements als Laufsteg schöner Seelen, die Gutes wollen und Bitterböses tun. Splitter auf Splitter, Schritt für Schritt entrollt und verzerrt sich ein pathetischer Psychothriller.

Wer weiß, was musikalisch passiert wäre, wenn Simon Rattle und das Freiburger Barockorchester auf eine zupackende und nicht sich hinter dekorativer Unverbindlichkeit verbarrikadierende Regie gestoßen wären? „Médée" ist auch ohne dramatische Befeuerung ein langsam eskalierendes Diskussionsfeuerwerk, das bewegt und erschüttert. So hört man in der Lindenoper alle Feinheiten, welche die Solisten auskosten – nicht extrovertiert, sondern mit Distinktion und im szenischen Vakuum entdeckten Freiräumen für leise Sensibilität auf Lava. Rattle und das Orchester beflügeln dazu mit kalkulierter Wärmezufuhr und instrumentaler Reichhaltigkeit, ohne dass sie den vokalen Führungsanspruch attackieren. Der von seinem neuen Direktor Dani Juris einstudierte Staatsopernchor verbindet sich mit ebenbürtiger Eindrücklichkeit.

Kožená überstrahlt Inszenierung

Gyula Orendt als liebeskranker Oronte und Luca Tittoto als wahnsinnig werdender König Créon bilden das eindrucksvoille Bassbariton-Fundament des Ensembles. Bei den drei Hauptfiguren gibt es nur Goldmedaillen, wobei dann Magdalena Kožená aufgrund des Umfangs und des krassen Affektuniversums ihrer Riesenpartie doch dominiert. Sie ist ein Wunder der expressiven Deklamation und Ariosität auf lyrischem Fundament. Wen der Abend zum Teil doch einen Funken Emotionen-Speed bekommt, dann wegen ihr. Reinoud Van Mechelen ist ein ebenbürtiger Partner mit tenoraler Sinnlichkeit, der Jasons emotionalen Opportunismus mit hypnotischen Tönen glaubhaft macht. Carolyn Sampson bestätigt ihren Interpretinnen-Rang mit Noblesse, Anmut, Würde und einem traurigen Tod. Ein großartiges Musikdrama wurde allerdings durch pseudo-empathischen Schnickschnack empfindlich gefleddert.

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