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Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
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Barrie Koskys Inszenierung der traditionsbelasteten „Anatevka“ an der Komischen Oper

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Mit seiner Neuinszenierung der „Anatevka“ trat Hausherr Barrie Kosky gegen eine legendäre Vorproduktion an, die Regiearbeit von Walter Felsenstein, der mit der Berliner Erstaufführung des Musicals von Joseph Stein und Jerry Bock eine der erfolgreichsten Produktionen an diesem Haus geschaffen hatte: unter dem Titel „Der Fiedler auf dem Dach“ erlebte Felsensteins „Anatevka“ mehr als 500 Aufführungen.

Festivität im Geburtstagsmonat der 70 Jahre alten Komischen Oper Berlin: selbst Festredner Frank-Walter Steinmeier setzt komisch-witzig auf Lacher: „Es gibt viel zu feiern bei den Opernhäusern in Berlin, erst am 3. Oktober – Sie wissen schon!“. Ihm seien nur sieben Minuten Redezeit für 70 Jahre zugestanden worden, aber doch erwähnte der Bundespräsident die beim Verlassen des Hauses in neuer Tradition dargereichten Pralinen ebenso, wie einen Brief, den Walter Felsenstein im Jahre 1947 an die Kulturabteilung der sowjetischen Kommandantur gerichtet hatte.

Alte Besucher des Theaters an der Behrenstraße wissen Genaueres zu berichten: der in Westberlin wohnende Theaterleiter Felsenstein hatte damit gedroht, das Theater nicht mehr zu betreten, wenn es ihm nicht gestattet würde, jenes Stück aufzuführen, das als amerikanisches Musical Devisen kostete und dessen Inhalt – Pogrome der Russen gegen Minderheiten – als dezidiert antisowjetisch eingestuft wurde.

Gegen diese Theaterlegende wetteiferte der jüdisch-australische Regisseur, der sich, seit zwei Monaten eingebürgert, nun stolz als Deutscher bezeichnet. Mit seiner Neuinterpretation setzte Kosky gleich beim titelgebenden Fiedler an: der ist in der Neuinszenierung kein Chagall-artiger alter Streicher, sondern ein blonder Teenager mit Bluejeans und grünem Sweatshirt, der auf dem Roller fährt, über Kopfhörer dröhnende Discomusik hört und dann einen zentralen Schrank öffnet, in welchem er eine Geige findet. Dieser Junge erweist sich als sehr fähiger Violinist: Maxime Bergeron mischt sich immer wieder ins Geschehen, mal klettert er in die Höhe der Dekoration, mal sitzt er auf dem Dach eines Kastens und intoniert alle Soloviolin-Parts dieses Musicals einwandfrei.

Aus dem zentralen Schrank treten anschließend der Milchmann Tevje und nach und nach alle Bewohner des Ortes.

Der Regisseur hat sich von seinem Bühnenbildner Rufus Diwiszus ausschließlich aus Möbeln ein jiddisches Stetl bauen lassen. Wie ein gewaltiger Theater-Möbelfundus kreisen die übereinander geschichteten Schränke, Tische und Truhen als türenreiches Ungetüm auf der Drehbühne.

Selbst das Ehebett von Tevje und seiner Golde ist ein schräg aufgebockter Schrank. Beim Pogrom während der Hochzeitsfeier von Tevjes ältester Tochter Zeitel (Talya Lieberman) wird die jüdische Gesellschaft von einer faschistischen Schlägertruppe mit Milch aus Tevjes Milchkannen überschüttet.

Kosky arbeitet mit In- und Erinnerungsbebilderungen, etwa im Terzett „Jente o Jente“, und die von Otto Pichler choreographierten Tänze sorgen für beschwingte Abwechslung. Der Auftritt der reichen Oma Zeitel (Sigalit Feig) als Tevjes vorgebliche Traumerscheinung im Glitzeroutfitv von Klaus Bruns, wird von reich gewandeten Totenköpfen umtanzt. Und auch der berühmte Flaschentanz bei der Hochzeit gelingt den 13 Tänzern makellos.

Obgleich schlüssig, mit viel Liebe zum Detail inszeniert, weist bereits der erste Teil – durch die Ansprachen bei der Premiere auf zwei Stunden ausgedehnt – deutliche Längen auf.

Längen

Nach der Pause herrscht auf der Bühne – ähnlich wie draußen – ein Schneetreiben, und von der großen Szenerie aus Schränken ist nur noch ein einzelner kleiner Schrank übriggeblieben: auf einer Versenkungsklappe positioniert, steigen aus ihm die handelnden Personen. Als Gag beklatscht, betrachtet Tevje darin auch eine verkleinerte Ausgabe der neuen Nähmaschine seines Schwiegersohns Mottel (Johannes Dunz).

Als die Juden vom Wachtmeister (Karsten Küsters) aufgefordert werden, ihr Heimat- Stetl Anatevka zu verlassen, ertönt spät die für die deutsche Fassung titelgebende Nummer über die kleine jiddische Ansiedlung. Nun treten sie – bei Kosky bewusst ganz gegen das Klischee der Koffer – ihren Weg in alle Welt an, zu (ungeliebten) Verwandten in die USA und nach Israel.

Vor der Abreise versucht die durch die eigenwilligen Heiratsentscheidungen der drei älteren Töchter des Milchmanns zu einem anachronistischen Beruf gewordene Heiratsvermittlerin Jente (Barbara Spitz) noch Kinder-Ehen, für die zwei deutlich jüngeren Nachzöglinge von Golde und Tevje, zu stiften. Tumb, aber mit sympathischem Lächeln gestaltet Peter Renz den Rabbi. Trotz derwischartigem Kreisen erstaunlich akkurat gelingt das Duett von Alma Sadé und Ezra Jung, als Tevjes zweiter Tochter Hodel und dem von ihr zum Ehemann erwählten politischen Heißsporn Perchik.

Nostalgisch

Das 1964 am Broadway uraufgeführte Musical steht und fällt mit der Partie des Milchmanns Tevje und dessen Ohrwurm „Wenn ich einmal reich wär’“. Max Hopp verkörpert dessen Oneway-Kommunikation mit Gott köstlich hadernd. Infolge seines verletzten Pferdes zieht er seinen Milch-Pferdewagen wie ein männliches Pendant der Brechtschen Mutter Courage über die Szene. Trotz des klein besetzten Orchesters sind alle Sänger_innen mikroportverstärkt. So kann Dagmar Manzel mit starker Bühnenpräsenz nicht nur die Dominanz der Golde deutlich machen, sondern bei ihren Abgängen auch – vor sich hin brabbelnd – auf bewährten Muster als Cleopatra an diesem Hause setzen.

Dirigent Koen Schoots musiziert das in die Jahre gekomme Stück, Jeremy Bocks diverse Musikstile mischende Partitur, im Fahrwasser von Loewes „My fair Lady“, mit nostalgischer Wirkung. Am spannendsten ist der offene Schluss, wenn der erwartete Grundton im Orchester unterbleibt.

Nach der dichten, aber wenig stringenten Abfolge lyrischer Szenen dankte dem Ensemble starker Schlussapplaus, doch waren auch vereinzelte Buhrufe gegen den Chordirektor (David Cavelius), die Tänzer, den Dirigenten und einzelne Solist_innen zu vernehmen.

Die Standing Ovations unterbrach Hausherr Berry Kosky für eine Geburtstagsansprache, für die eine Nachbildung der Komischen Oper als riesige Geburtstagstorte auf die Bühne getragen und mit Tischfeuerwerk illuminiert wurde. Das konditorische Kunstwerk durften als erste ehemalige Mitglieder des Theaters anschneiden: eine heute in der Statisterie auftretende Dame, die 1947 in Felsensteins Inszenierung „Das schlaue Füchslein“ eine Fliege gemimt hatte, ein Hornist als einziger noch lebender Instrumentalist der Besetzung von 1947 sowie Tom Schilling, der Choreograf von Felsensteins „Anatevka“-Inszenierung. Dazu dirigierte Kosky erstmals selbst das Orchester der Komischen Oper – zu einem Happy Birthday-Ständchen. Dann aber wurde der Hausherr ernst, spannte den Bogen von den jüdischen Flüchtlingsströmen der Vergangenheit zu jenen der heutigen Flüchtlinge und warb um Spenden für eine Organisation in Kreuzberg zugunsten schwangerer Flüchtlinge, Kinder und ihrer Mütter.

Mehr Heiterkeit kündigte Kosky für den zweiten Teil seiner Geburtstags-Ansprache an, auf der diesmal überfüllten Premierenfeier im Foyer, wo allen Besuchern zur Feier ein Gläschen Sekt gereicht wurde.

  • Weitere Aufführungen: 5., 6., 9., 16., 21., 22., 27., 29., 31., Dezember 2017, 7., 13. Januar, 20., 21. Februar, 3., 11., 16. März, 1., 29. April und 15. Juli 2018.

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