Hauptrubrik
Banner Full-Size

Bausteine aus dem Ziegelofen

Untertitel
Die Wittener Tage für neue Kammermusik 99
Publikationsdatum
Body
Seit zehn Jahren leitet und programmiert Harry Vogt, Musikredakteur beim Westdeutschen Rundfunk in Köln, die Wittener Tage für neue Kammermusik. Vogts Energie und Kreativität ist es zuzuschreiben, daß aus den Kammermusiktagen eine ebenbürtige Konkurrenz zu den Donaueschinger Musiktagen entstanden ist – was der Sache der Neuen Musik nur zum Vorteil gereicht. Gelegentlich verlangen solche Verdienste auch allgemeinen Dank. Das meinten auch das Freiburger „ensemble recherche“ und deren Leiter, der Cellist Lucas Fels. Sie animierten 14 Komponisten, die im vergangenen Jahrzehnt in Witten oft präsent waren, zu Jubiläumskompositionen für ein Überraschungskonzert, das Harry Vogt „In Nomine“ im Anschluß an ein ohnehin schon anstrengendes Konzert vom „ensemble recherche“ klingend dargebracht wurde. Die anspruchsvolle Stückfolge wirkte wie ein Querschnitt durch zehn Jahre Harry Vogt in Witten. Facettenreich, gleichwohl auf verbindlich hohem kompositorischen Niveau. Unterschiedlich in den kompositorischen Handschriften, doch identisch im ästhetischen Anspruch, der bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik unbeirrbar hochgehalten wird. Voice Solos for a machine Room von und mit David Moss (C) Charlotte Oswald Die Komponisten der „In Nomine“-Liturgie für Harry Vogt heißen Hans Zender, Günter Steinke, Matthias Pintscher, Cornelius Schwehr, Rolf Riehm, Wolfgang Rihm, Franz Martin Olbrisch, Klaus Huber, Walter Zimmermann, Gérard Pesson, Brice Pauset, Georg Kröll, Johannes Schöllhorn und Jörg Birkenkötter. Die Liste ist für weitere „Zuwanderer“ offen. Seit dem Überraschungskonzert für Alfred Schlee zu dessem 90. Geburtstag 1991 im Wiener Konzerthaus weiß man, daß bei solcherart Gelegenheitskomponieren durchaus bemerkenswerte Werke entstehen können. Pintschers Viola-solo-Stück „In Nomine-Übermalung“ möchte man das Bemerkenswerte ebenso zuerkennen wie Klaus Hubers Ensemblestück „In Nomine-Ricercare il nome“ in seiner gleichsam implodierenden Stille. Walter Zimmermanns „Dit“ läßt eine alte guinesische Fundvorlage von einem begleitenden Cellisten quasi „nachmalen“ – Lucas Fels wetteiferte virtuos mit einem Tonband. Zenders (Introitus mit Fanfaren) und Rihms (cnts.frms.) Beiträge bestachen durch ihre konzentrierte Lakonik, aber auch die etwas längeren Beiträge fanden zu einem für den jeweiligen Komponisten signifikanten „Stil“. Harry Vogt hat in den zehn Jahren seiner Direktion den Begriff der Kammermusik behutsam erweitert, das Musikalische mit anderen Kunstformen konfrontiert, die einzelnen Programme unter bestimmten thematischen Gesichtspunkten entworfen. Harry Vogt stellt jedes Jahr neue, andere Fragen zur gegenwärtigen Situation, sichert auf diese Weise den Kammermusiktagen übergreifende Aktualität. Die Fragen, die er den diesjährigen Musiktagen und damit den von ihm beauftragten Komponisten stellte, lassen sich auf die von ihm vorgegebenen Stichworte „Simultaneität“, „Transformation“ und „Übermalung“ konzentrieren. Damit verbinden sich im Zeitalter totaler Vernetzung Fragen nach der Wahrnehmungsfähigkeit inmitten einer zunehmend sich beschleunigenden Datenflut. Vogt zitiert Paul Virilios bildhafte Formulierung vom „rasenden Stillstand“. Die Fragestellungen reichen aber noch weiter. Der Informatiker Joseph Weizenbaum wies schon 1977 in einer Untersuchung auf die gefährliche Diskrepanz zwischen Computer-Macht und „Ohnmacht der Vernunft“ hin: Die Beschleunigung und Verdichtung digitaler Datenfluten gerate zunehmend außer Kontrolle. Die wachsende Unfähigkeit des Menschen, auf Ereignisse zu reagieren, werde steigende Informationskatastrophen evozieren. Aufgabe der Kunst, der Musik, wäre es, für diese Entwicklungen entsprechende Sensibilisierungen auszubilden, eine Phänomenologie des Gleichzeitigen in Klanggestalten zu fassen, zeitlich scheinbar weit Auseinanderliegendes in eine komponierte Chiffre zu bannen, um „Anschaulichkeit“ zu gewinnen. Eine wichtige Funktion fiel in dieser Beziehung diesmal den Installationen zu. Im Stadtteil Bommern, unmittelbar am Ruhr-Fluß, liegt inmitten von vielem Grün die Zeche mit dem poetischen Namen „Nachtigall“. Bis 1892 wurde hier Kohle gefördert, danach richtete sich eine Ziegelbrennerei auf der Anlage ein, baute zwei riesige, ovale Ringöfen über die Zechenschächte. Bis 1963 war die Brennerei in Betrieb. Jetzt entsteht aus den „Ruinen“ neues Leben in Gestalt eines Industriemuseums, wie sie an vielen Orten des Ruhrgebiets schon zu finden sind. Was diese Landschaft einst prägte, die radikale Verwandlung von „Natur“ in eine Industrielandschaft, wird nach dem Ende von Bergbau und Stahlkochen musealisiert, umgeben von zurückgewonnener „Natur“. Die Ästhetisierung einer harten Arbeitswelt, die gleichwohl auch neue soziale Bindungen und Lebensformen schuf, scheint nicht unproblematisch. Die Realität von einst wird zur ungebrochenen Fortschrittschiffre stilisiert und im Rückblick unserer Tage gleichsam mythisch verklärt. Bei den komplexen Wechselbeziehungen darf aber nicht die identitätsstiftende Wirkung dieser Museen außer acht gelassen werden: die Menschen des Ruhrgebiets hatten eine besonders intensive Bindung an „ihre“ Arbeitswelt. Im Bewahren der Erinnerung liegt daher auch die individuelle Anstrengung, etwas von der bedrohten Identität zu retten – ein ähnlicher „psychischer“ Prozeß wie seinerzeit, als die Polen die zerstörte Altstadt von Warschau naturgetreu rekonstruierten: ein Akt nationaler Selbstvergewisserung. Aufgabe einer kritisch sich verstehenden Kunst wäre es, diese komplizierten psychischen Koinzidenzen vor planer Sentimenalisierung zu bewahren. Wittens „Installateure“ verstanden so ihren Auftrag: Im Ziegelofen I, bereits restauriert und verputzt, richtete Dirk Schwibbert „Zwischenstationen“ ein: Klänge und Geräusche, zum Teil durch vorbeigehende Besucher ausgelöst, suggerieren die einstige Realität – Ziegel- und Brenngeräusche verbinden sich mit aktuellen Geräuscheinflüssen von außen. Die klanglichen Ebenen werden differenziert strukturiert. Der „Wanderer“ im Klangofen fühlt sich quasi ausgespannt zwischen den Zeiten. Im Ziegelofen II, noch nicht restauriert und deshalb auch nur durch Luken in der Wand zu betrachten, fühlte sich Nicolas Collins an Pharaonengräber erinnert: Raum als etwas Bedrohliches, Geheimnisvolles. Der hineinschauende Betrachter löst Licht- und Klangeffekte aus. Er erhält so einen Eindruck von den Bedingungen, unter denen hier Menschen arbeiten mußten. Cathy Milliken, Mitglied des Ensemble Modern, siedelte unter dem beide Ringöfen überspannenden Dach ihre Installation „Ausschnitt: Lungen“ an, „Reflektionen“ über Geschichte und Funktion der Anlage. Die beiden ovalen „Anlagen“, bestückt mit grünen Gräsern, Windgebläsen, Pfannentellern, hängenden Trinkgefäßen wie auf einer Intensivstation, wirken wie die Flügel einer Lunge. Aus industrieller Entbergung der Erde, aus Atemnot und Stahlerzeugung wurde ein „grünes“ Erholungsgebiet. Zeiten, Erscheinungen überschneiden sich, erzeugen Bewegungen und aus diesen Klänge und Geräusche. Es entsteht eine Suggestion, die die Wahrnehmung schärft. Im neuverputzten und modern eingerichteten Betriebsgebäude legte Franz Martin Olbrisch seine „Dissimilation“ an: 1742 ließ Friedrich II. von Preußen die Wittener Bergwerksgruben besetzen, im gleichen Jahr komponierte ihm Carl Philipp Emanuel Bach die „Preußischen Sonaten“ – eine „Gleichzeitigkeit“, die, wie es Olbrisch unter Hinweis auf Jean Piaget formuliert, auf einer „intellektuellen Konstruktion“ beruht. Mit seiner Installation führt Olbrisch die Elemente, die das Spannungsfeld beschreiben, zusammen: schwarze Wegbahnen, Steinkohlehaufen, Dokumente und gedruckte Zeugnisse aus früherer Zeit, die von einem Sprecher verlesen werden und gleichzeitig als lose Blätter über den Fußboden verstreut sind. Der „Begeher“ der „Dissimilation“ löst wiederum Klänge und Geräusche aus, die die optischen Zeichen im Raum bündeln. Das besitzt bemerkenswerte Suggestionskraft, ebenso wie Olbrischs für das Maschinenhaus und das Rubin-Quartett komponierte Streichquartett mit dem Titel „Ein Quadratmeter Schwärze“: Überwölbungen, Verspannungen realer Vorgänge von einst im komponierten Klang von heute. In diesem Sinne schrieben auch Caspar Johannes Walter sein Stück „weg von der Null“ für sieben Instrumente, Georg Odijk/Marcus Schmickler ihre Gemeinschaftskomposition „Brüsseler-Platz-10a-Musik“ und David Moss „Voice Solos for a Machine Room“ für (seine) Stimme, Schlagzeug und Elektronik, ein etwas oberflächliches Arrangement. Die thematischen Leitlinien der Wittener Kammermusiktage durchzogen auch die Konzerte, die „Ober-Titel“ wie Transformationen, Palimpsest, Schatten/Szene, Trio/Sextett oder Stimmen/Integral erhielten und fast ausschließlich Uraufführungen präsentierten. Beat Furrers Komponieren gewinnt immer noch an Substanz, Charakteristik, klanglicher Differenzierung und gestischer Expressivität. Fabelhaft interpretierten das Schlagquartett Köln und das SWR-Vokalensemble Stuttgart Furrers neues Werk „Stimmen/Quartett“, das zwei Texte von Leonardo da Vinci und Christine Huber sowie das autonom komponierte „Quartett“ für vier Schlagzeuger simultan ablaufen läßt. Ebenbürtig Furrers „Aria“, auf einen Text Günter Eichs für Sopran (Petra Hoffmann) und sechs Instrumente. Furrer setzt dem „rasenden Stillstand“ Paul Virilios eine kaum merkliche, gleichwohl still-intensive, nach innen drängende Bewegung entgegen, die das Gegenteil sinnlosen „Rasens“ darstellt.Das Prinzip „Simultaneität“ steigert Robert HP Platz in „up down strange charm“ ins fast Virtuose: Es sind eigentlich vier selbständige Werke für verschiedene Instrumentalbesetzungen, die jeweils allein oder auch gleichzeitig gespielt werden können. Subtil und einfühlsam komponiert Platz hier in Klängen und Lineaments japanische Architekturen nach, übersetzt sie in Musik. Klaus Huber schafft in „L’ombre de notre âge“ eine neue Septettversion für ein zuvor komponiertes Werk („L’âge de notre ombre“): eine kunstvolle, subtil ausgehörte Re-Komposition, die schon vor dem anderen Stück im Kopf des Komponisten existierte und beim Heraufholen zugleich eine entschiedene Reduktion erfuhr. Brillant ist Georg Friedrich Haas’ „Nach-Ruf...entgleitend“ komponiert. Die mikrotonalen Intonationen werden allein von den Interpreten realisiert. Das „ensemble recherche“ präsentierte die schwebenden, geschärften Klangreibungen souverän, arbeitete die Organik des Werkes plastisch heraus. Ein Violinstück von Brian Ferneyhough wurde von Irvine Arditti mit der ihm eigenen Intensität und Vehemenz zum großen Solo aufgetrieben. Berührend war die Erinnerung an den im vergangenen Jahr verstorbenen Gérard Grisey, dessen „Quatre Chants pour Franchir le Seuil: Berceuse“ vom Freund Brice Pauset sensibel bearbeitet wurden. Die Kammermusiktage schauten 1999 etwas mehr als üblich nach Frankreich: Von Philippe Hurel erklang ein geschmeidig fließendes Instrumentalstück „Pour Luigi“. Von Martin Smolka hörte man ein expressives, rhythmisch markantes „Sextett“. Das kompositorische Niveau war insgesamt hoch. Die Namen Christof Staude, James Dillon, Julio Estrada, Wolfram Schurig, Stefano Gervasoni, Alan Hilario mögen dafür Zeugnis ablegen. Auf gewohnt hohem Niveau standen auch die Interpretationen. Harry Vogt hat sich einen bewährten Stamm brillanter Interpreten herangezogen, die für Authentizität der Wiedergaben bürgen. Das unermüdliche „ensemble recherche“ ist nur eines der hochkarätigen Ensembles, die in Witten auftreten. Die Tage der neuen Kammermusik in Witten strahlen inzwischen weit in die europäische Musikszene aus, nicht zuletzt durch das verdienstvolle Engagement des Westdeutschen Rundfunks, der die Veranstaltung weitgehend finanziell trägt und die Konzerte für spätere Aussendungen aufzeichnet.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!