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Happy End in Wiesbaden: Der Investor (Jack Lee) auf der Abrissbirne. Foto: Thomas Aurin

Happy End in Wiesbaden: Der Investor (Jack Lee) auf der Abrissbirne. Foto: Thomas Aurin

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Bechers Bilanz – Dezember 2024: Den Gegnern eine Nase drehen

Vorspann / Teaser

Dicker Staub beschwert das Libretto von Jacques Offenfachs opéra bouffe „Fantasio“. Im prächtigen Staatstheater Wiesbaden bläst ihn Regisseurin Anna Weber hinweg und erzählt nach vollständiger Neutextierung einen Schwank über ein Theater, das der Gier eines Großinvestors zum Opfer zu fallen droht. Kommt auf uns zu, so viel Pessimismus darf an dieser Stelle sein. Zwar rettet uns gute Laune allein nicht vor den Kulturverächtern – die verstehen nur Excel-Tabellen. Aber dem Gegner eine Nase zu drehen, bereitete schon immer Genugtuung.

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Wiesbaden: „Fantasio“
Willkommen in der 5. Jahreszeit

Die an der „Hanns Eisler“ ausgebildete Regisseurin Anna Weber steckte für ihre Überschreibung von Offenbachs „Fantasio“ Schelte von den Kritiker-Kollegen ein, auch für die knarzende Neuübersetzung wie für hanebüchene Plot-Twists. Was soll’s? Das Gefasel am Anfang zieht sich, und das Ehepaar hinter mir im halbvollen Parkett flieht schon nach zehn Minuten. Dann aber macht dieser „Fantasio“ gute Laune, was vor allem an den exaltierten Kostümen von Laura Kirst liegt. 

So ist die 5. Jahreszeit, in Köln, im benachbarten Mainz und anderswo. Einmal am 11.11. in die Straßenbahn Linie 15 zwängen, und man hat das Prinzip dieser Inszenierung verstanden. Die Titelfigur ist hier eine Frau (da sein Tenor in den Schützengräben des deutsch-französischen Krieges lag, schrieb Offenbach die Partie kurzerhand um), am 4. Dezember gesungen von der Amerikanerin Camille Sherman. Ihr voll klingender und in allen Lagen ausgeglichener Mezzo schmiegt sich in die vielen lyrischen Passagen der oft kammermusikalisch dimensionierten Partitur. Ihr zur Seite steht Josefine Mindus als Theres mit hellem, noch etwas leichtgewichtigen Koloratursopran. Beide gehören zum Wiesbadener Ensemble, wie auch Sascha Zarrabi in der Nebenrolle des Marinoni (der Adlatus des bösen Investors), dessen Tenor erfreut und der ein paar coole Tanzschritte machen darf. Offenbachs Musik ist zärtlicher, als es die Witzbolde in Wiesbaden wahrhaben wollen, aber wir verlassen das Theater mit einem Lächeln und in der Hoffnung, dass wir in der Hessischen Landeshauptstadt auch künftig über das Programm streiten dürfen, nicht über Geld und nicht über die Theaterleitung.

Köln: Orchestre National de France
L'élégance à la perfection

Dass der noch-GMD des WDR Sinfonieorchesters in der Kölner Philharmonie dirigiert, ist keine Seltenheit, dass vor ihm die (ebenfalls von ihm geleiteten) Franzosen sitzen, schon eher. Das Orchestre National de France gastiert mit französischem Programm, nimmt man Strawinskys „Feuervogel-Suite“ als französische Musik, was sie ist. 

Cristian Măcelaru verzaubert das Publikum, indem er aus dem Nichts beginnt (was beim einleitenden „Zauberlehrling“ von Paul Dukas noch nicht gelingt). Das Tremolo der Streicher vor dem letzten Satz raschelt so filigran wie die wenigen noch verbliebenen Blätter an den Bäumen, heute, am 6. Dezember. Die Holzbläser, namentlich Marie Boichard und Elisabeth Kissel am französischen basson, spielen so liebevoll, man möchte mit jeder und jedem einzelnen ein Glas Rotwein kreuzen. Im „Bolero“, der das Publikum schließlich von den Sitzen reißt, hält Măcelaru die Spannung so lang wie möglich, und die Solistinnen und Solisten schauen den anderen neugierig zu: Aber ja, alle spielen ihre Soli mit vollendeter élégance. Beatrice Rana begleitet die Tournee. Die italienische Pianistin verbirgt Maurice Ravels G-Dur-Klavierkonzert oft an der Grenze zum Nichts, was besonders dem intimen Walzer in der Mitte zugutekommt. In den Ecksätzen funkelt ihr Anschlag wie das Rotgold ihres Kleides. Das Konzert war eine Sternstunde. Wer zu Hause blieb – und den leeren Sitzen nach waren es einige –, hat etwas verpasst.

Köln: Ensemble Musikfabrik
Nostalgische Reflexion über den Verlust der Stimme

Zum Montagskonzert des Ensemble Musikfabrik am 16. Dezember lädt die Botschaft Irlands ein, vertreten durch ihre Kulturattachée Candice Gordon. Ein zehnminütiges Klarinettensolo eröffnet den Abend. Der in Paris ausgebildete Komponist Allain Gaussin schlägt in „Satori“ einen schönen Bogen von langsamen, vierteltönig gewundenen Linien hin zu lebhafter Zirkusmusik. 

Im Gespräch nach dem Konzert berichtet die irische Klarinettistin Carol McGonnell vom zeitweiligen Verlust ihres Hörvermögens und dem mühsamen, am Ende esoterischen Prozess der Heilung. Ihre Erfahrung spiegelt die zweite Komposition des Konzertes: Komponist Ian Wilson reflektiert in dem Liederzyklus „Voces amissae (Lost voices)“ für Sopran, begleitet durch ein Sextett aus Streichern und Schlagzeugern, die traumatische Erfahrung des Stimmverlustes. Die Australierin Lotte Betts-Dean stellt sich der Herausforderung, mit halber Stimme und in häufigem parlando-Stil zu singen. Dabei klingt sie zuweilen so schutzbedürftig wie Joni Mitchell, selten erklingt ihr seidenhaftes Vibrato. Wilson, für die deutschen Festivals vermutlich zu unaufgeregt, stellt seine Sängerin immer wieder in einen tonalen Resonanzraum, in dem die beiden Schlagwerker den Puls markieren. Eine Musik, intim und nostalgisch, wie man sie sich in der Vorweihnachtszeit wünschen darf.

Köln: Papitos con Swing
Vorweihnachtlicher Hüftschwung

Aber wer nimmt vor der Verordnung von Besinnlichkeit nicht gerne Reißaus? Einen beschwingten Salsa-Abend bietet der Kölner Jazz-Club „King Georg“ allen Weihnachtsmuffeln am 20. Dezember. Das Quintett „Papitos con Swing“ – Klaviertrio mit zusätzlicher Posaune (Paco Montenegro) und Percussion – beschenkt uns mit Frohsinn. Die Altersspanne im Publikum ist breit, einige singen jede Silbe mit, wenn Sängerin Lindoya das Mikro ergreift. Die Band verzichtet auf Feinheiten oder gar dynamische Rafinesse (wie immer hält man sich nur während des Bass-Solos oder am Beginn vom Klavier-Solo zurück), vermutlich zündet die Party gerade deswegen. Als zweite Nummer sticht „Spain“ heraus, der Standard von Chic Corea aus dem Jahr 1971. Normalerweise im up-Tempo gespielt, in Richtung „Some Skunk Funk“ getrieben, gehen die „Papitos“ es mit laszivem Hüftschwung an. Was für hübsche Haken das Thema doch schlägt, wenn man dem Ohr einmal erlaubt, es zu verfolgen!

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