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Almas Svilpa (Mefistofele), Mirko Roschkowski (Fausto) (v.l.) Foto: Forster

Almas Svilpa (Mefistofele), Mirko Roschkowski (Fausto) (v.l.). Foto: Forster

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Bechers Bilanz – Februar 2024: Die Utopie der Verständigung

Vorspann / Teaser

Wenn über Dmitrij Schostakowitschs Fünfte Symphonie gesprochen wird, dann meist vom Schluss: eine Minute Geschrabbel der Streicher auf einem Ton im fortefortissimo, also mit maximaler Armbewegung. Ein ebenso affirmativer wie strapaziöser Dur-Schluss als Antwort auf den Verriss der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“. Weggefährten, Exegeten, Biografen und Musiker versichern einhellig, die Fünfte sei kein Kniefall vor dem Diktator, sondern dessen subtile Kritik. Wirklich?

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Köln: Hilary Hahn mit dem National Symphony Orchestra
Wie kritisch ist Gewalttätigkeit?

In Schostakowitschs Fünfter jubelt die Musik unter Schmerzen. Kann man überall lesen. Wenig steht geschrieben über die ebenso martialische Marschepisode im ersten Satz. Als ich sie am 24. Februar in der voll besetzten Kölner Philharmonie höre, wird mir himmelangst, umso mehr, als aktuell Putin Schostakowitschs Musik instrumentalisiert, wie Friedrich Geiger berichtet hat. Aber die Fünfte eignet sich als Tournee-Stück wie sonst wenige seiner 15 Symphonien: Sie erzielt maximalen Effekt mit überschaubarer Besetzung, und so dirigiert sie Gianandrea Noseda auch bei seinem Gastspiel mit dem aus Washington angereisten National Symphony Orchestra. Noseda lässt keinen Zweifel über die Gewalttätigkeit dieser Musik zu, sekundiert von den strahlenden und nervenstarken Blechbläsern eines amerikanischen Orchesters. Alle sagen, dass sich die Brutalität dieser Musik gegen den Diktator richtet. Gehört habe ich das an diesem Abend nicht.

Gehört habe ich drei beseelte Stücke aus Alban Bergs „Lyrischer Suite“, in denen die Polyphonie in den Hintergrund trat zugunsten klanglicher Ausgewogenheit. Die Amerikaner spielen Berg und erinnern an Holberg, komponiert von Edvard Grieg: frei und fröhlich. Eine Entdeckung. Aus dem Häuschen gerät das Publikum bei Hilary Hahn, die Geigerin aus der Nachbarschaft trotz Ausnahmetalentes. Korngolds Violinkonzert musiziert sie leicht, geschmackssicher und mit festem Ton. Vor allem bleibt sie auf Tuchfühlung mit dem Dirigenten. Die beiden halten an diesem Abend die Utopie der Verständigung aufrecht. 

Köln: Happy Hour mit WDR Sinfonieorchester
Schostakowitschs große Dresden-Erzählung

Noch einmal Schostakowitsch in der Kölner Philharmonie. Das WDR Sinfonieorchester hat für ein „Happy Hour“-Konzert am 15. Februar die estnische Dirigentin Kristiina Poska eingeladen. Im Mittelpunkt steht Schostakowitschs Kammersinfonie op. 110a. Zwingend geht dieses aus dem Fragment des XIV. Contrapunctus aus Bachs „Kunst der Fuge“ hervor. Vom BACH-Motiv schreitet man rasch zum DEsCH, dem Zentrum der Kammersinfonie. Das zugrundeliegende Achte Streichquartett ist so gar nicht „happy“; es spiegelt die Kriegszerstörungen in Dresden, die den Komponisten bei seinem Besuch 1960 schockierten. Die Bomben bringenden Flugzeuge hört man noch heute in dem Werk. Poska nimmt es so kräftig, wie es sich gehört, überschlägt sich aber in den aggressiven Sätzen nicht und drosselt das Tempo. Die WDR-Streicher spielen mit Leidenschaft und Lust und applaudieren der Dirigentin. In den voll besetzten Stuhlreihen sieht man viele unter 30. Jan Malte Andresen führt souverän durch das Programm und plaudert vertraulich wie ein WDR2-Moderator, ohne die Ernsthaftigkeit der Musik zu desavouieren. Zum Ausklang spendiert das Orchester ein Kölsch, das Vorabend-Format funktioniert hier vorbildlich.

Essen: „Fausto“ von Louise Bertin
Satan und Schlappschwanz

Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Wochen ermöglicht das „Palazzetto Bru Zane“ (Zentrum für französische Musik der Romantik) in NRW die Wiederbegegnung mit einer vergessenen Oper. Nach Dortmund ist nun das Aalto-Theater in Essen an der Reihe: „Fausto“ von Louise Bertin, uraufgeführt 1831 in Paris. Dass dieses Werk in den Kanon der großen Faustopern aufgenommen zu werden verdient, liegt nicht nur daran, dass es die einzige aus weiblicher Perspektive ist. Die Komponistin, geschätzt von Hector Berlioz und Victor Hugo, saß wegen Kinderlähmung im Rollstuhl und verlor sich in einem maskulinen Berufsumfeld. Ihre vier Opern verschwanden. „Fausto“ – gesungen wird auf italienisch – verschweigt die Vorbilder nicht. Man hört Berlioz in ausgeklügelten Harmoniewechseln, Mozart in den Rezitativen mit Hammerklavier und jede Menge Rossini. Bertin erfindet eine berührende Melodie hier, einen eisigen Klang dort. Der verliebten Arie der Margarita schickt sie eine traumschöne Oboenkantilene voraus, im Triumphgesang Mefistofeles verbannt sie dessen Melodie in die Hölle. Ihr selbst geschriebenes Libretto ignoriert die Metaphysik Goethes und widmet sich einen geschlagenen Akt lang der gesellschaftlichen Ächtung, die über die unehelich schwangere Margarita hereinbricht. Tatjana Gürbacas Regie ist leidenschaftlich, klar und klug, die Kostüme von Silke Willrett folgen der üblichen Viebrock-Ödnis, die Bühne von Marc Weeger ist seelenlos, aber funktioniert. Die Liebe der Komponistin und des Regieteams gehört nicht dem Schlappschwanz Faust, der in Bertins Lesart Mefistofele ruft, um bei Margarita landen zu können, sondern dem weiblichen Opfer: Jessica Muirhead singt mit voluminösem Sopran, stark in der Tiefe, intonationssicher in der Höhe, dabei mit glühendem Vibrato. Almas Svilpa ist als Mefistofele mehr Salesman als Satan, aber seinem Gesang erliegen alle und mehr noch seiner verführerischen Beweglichkeit. Dirigent Andreas Spering streicht im Programmheft die Vorzüge der Musik heraus und sein Dirigat beweist es: Der Abend ist musikalisch vom Feinsten. Eine Faustoper ohne falschen Zungenschlag und ohne Männlichkeitsrituale. Hoffentlich bleibt das Werk im Repertoire.

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Jessica Muirhead (Margarita, ab der zweiten Vorstellung), Opernchor Foto: Forster

Jessica Muirhead (Margarita, ab der zweiten Vorstellung), Opernchor. Foto: Forster

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Frankfurt: „Der Traumgörge“ von Alexander Zemlinsky 
Die Opfer träumen ein Happy End

Der Legende nach setzte sich Alexander Zemlinsky einmal in seinen letzten Lebensjahren – schon im amerikanischen Exil – an das Klavier und spielte aus seiner 35 Jahre zuvor komponierten Oper „Der Traumgörge“, die es zu seinen Lebzeiten auf keine Bühne schaffen sollte. Er habe sich, so seine Frau Louise, danach umgedreht und zu ihr gesagt: „Und es ist doch gut.“ In der Tat: Musikalisch ist „Der Traumgörge“ ein Meisterwerk, dafür schwächelt das Libretto. Der erste Akt funktioniert, der zweite ist krude und tritt auf der Stelle. Der Epilog vollends hält ein hanebüchenes happy end für das Liebespaar bereit, für Görge, den verträumten Büchernarr, und für Gertraud, der die bösen Bauern Brandstiftung nachsagen. An der Oper Frankfurt deutet Regisseur Tilmann Köhler bei der Neuinszenierung am 25. Februar den Schluss als Vision von Görge, der mit Gertraud dem ziellosen Bauernaufstand zum Opfer fiel. Chapeau! Dirigent Markus Poschner vollführt das Kunststück, die komplexe Polyphonie der Partitur nicht nur hörbar zu machen, sondern auch zu gestalten und dabei die Balance mit der Bühne nie aus den Augen und Ohren zu verlieren. Dorthin gehört in erster Linie ein nervenstarker Görge. Man benötigt einen Lyrischen Tenor mit der Kraft eines Siegfrieds und der Textverständlichkeit eines Florestans. Einen wie den Amerikaner AJ Glueckert, im Frankfurter Festengagement. Magdalena Hinterdobler prägt als Grete spielerisch und sängerisch den ersten Akt, Iain MacNeil als gewaltbesoffener Hippie den zweiten. Wie schön, dass auf der Opernbühne weiter fabuliert wird und der „Traumgörge“ nicht als verloren gelten muss.

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Köln: Musik der Zeit mit Simon Steen-Andersen
Das gequälte Klavier

Aus acht Metern Höhe stürzt ein Konzertflügel auf harten Beton. Holzsplitter fliegen durch die Luft, aber das Instrument steht noch. Gequält klingt, was Pianist Nicolas Hodges noch den Tasten entlockt, und Simon Steen-Andersen hat das Ergebnis für uns filmisch aufgefangen – sowohl den crash wie auch den Pianisten. Beim „Musik der Zeit“-Konzert am 3. Februar im Kölner Funkhaus erklingt das „Piano Concerto“ des dänischen Komponisten erstmals mit einer anderen Pianistin, mit Rei Nakamura, die kurzfristig für Hodges eingesprungen ist. Steen-Andersen würfelt mit einer Handvoll Vokabeln nach dem Setzkasten-Prinzip, aber es geht hier auch nicht um raffinierte Entwicklung, sondern um nackte Gewalt. Das Zerstören eines Instrumentes als Konzertereignis hat nichts von seiner Rohheit eingebüßt. Indem Steen-Andersen Beethoven assoziiert, rückt auch dessen (rein musikalische) Gewalttätigkeit in den Vordergrund. In seinem neuen, u. a. vom WDR in Auftrag gegebenen Klavierkonzert, dem „no Concerto“, verneigt sich der listige Komponist vor der Musik, wieder ist es Beethoven: In ferner Zukunft, einer Zeit ohne Musik, ohne Instrument und ohne Konzert, stolpert ein Forscher (Sebastian Rudolph) durch ein virtuelles Orchester, das er dank eines ausgebuddelten Magnetbandes zum Leben erweckt. Man gibt Beethovens Viertes Klavierkonzert. Die Zuhörer des WDR Sinfonieorchesters erleben durch ihn alles neu: Was für ein komisches Ritual, dem wir uns immer und immer wieder hingeben. Eine Erinnerung daran, dass die Errungenschaften der Kultur eine zarte Pflanze sind, die wir hegen sollten. Patrick Hahn forscht weiter an den Rändern der zeitgenössischen Musik, sein Publikum wird jünger und fröhlicher, und dass in diesem Rahmen Luigi Nonos „… sofferte onde serene …“ erklingt, nimmt man dankbar entgegen. Michael Wendeberg (Dirigent der beiden Klavierkonzerte) duettiert mit der Aufzeichnung von Maurizio Pollini. Hoffentlich wird sich auf dem vergrabenen Tonband dereinst nicht nur ein Klavierkonzert von Beethoven, sondern auch ein Nono finden.

Aurdal, Norwegen: Hemsing-Festival
Geigen im tiefen Schnee

Die Schwestern Ragnhild und Eldbjørg Hemsing sind international gefeierte Violinsolistinnen. In der Region Valdres, 170km nördlich von Oslo, wo Ragnhild mit ihrer Familie lebt, gründete sie das Hemsing-Festival, das im vergangenen Jahr sein zehnjähriges Jubiläum feierte. Heuer listet der Kalender zwischen dem 8. und dem 11. Februar 18 Termine und fast ebenso viele Konzertformate: eine Weinprobe hier, ein Konzertquiz dort, ein Frühstücks- und ein Kindergartenkonzert, Meisterkurse und Tanzschnupperkurs, ein Hauskonzert bei Hemsings, eine Kirchenmesse. Alles maximal 90 Minuten, alles ohne Pausen, ohne Zugaben. 

Ragnhild Hemsing kombiniert auf ihren CDs klassische Geige mit Hardanger-Fiedel. Auch auf ihrem Festival erklingt reichlich Volksmusik, meist für die Hardanger-Fiedel, darunter das atemberaubend schöne Instrument, das Ole Bull spielte, der legendäre „Paganini des Nordens“. Oder wenn die Absolventen des festivaleigenen „Framr“-Programms sich präsentieren, wenn etwa Marius Westling einen „Springer“ auf der Hardanger-Fiedel spielt. Dann verzaubert ein Lächeln die Gesichter des heimischen Publikums.

Hauptattraktion des Festivals sind die unterschiedlichen Spielorte in und um Aurdal. Zum Beispiel die dreihundertjährige Kirche, ein außen weiß gestrichener, innen naturbelassener Holzbau mit nüchterner Akustik. Oder das Festivalhotel Nythun, eine halbe Autostunde bergan von Aurdal gelegen, umgeben von verschneiten Fichtenwäldern, durch die sich jungfräuliche Langlauf-Loipen ziehen. Oder die Fjellkirke (Bergkirche), die man am besten auf Skiern erreicht. 

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Kirche in Aurdal. Foto: Christoph Becher

Kirche in Aurdal im Schnee. Foto: Christoph Becher

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Zu den viel beschäftigten Musikern des Festivals gehört das schottische Maxwell Quartet. Neben Haydn und Mozart spielen sie in der weißen Holzkirche von Aurdal auch eine jener Aufführungen, die sich das Festival öfters leisten sollte: zeitgenössische Musik. Die Uraufführung „Thar Farraige“ der irischen Komponistin Linda Buckley kombiniert einen modernen Dudelsack (Brighde Chaimbeul pumpt einen Blasebalg statt die Luft einzublasen) mit Streichquartett. Eine esoterische Komposition, abgelauscht den Klagegesängen schottischer Volksmusik. Im Abschlusskonzert präsentiert das Maxwell Quartet Felix Mendelssohn Bartholdys f-moll-Quartett op. 80 so gehetzt und von Dämonen besessen, wie Mendelssohn das Werk kurz nach dem Tod der geliebten Schwester empfunden haben mag. 

Ingeborg Gillebo zeigt in vier verschiedenen Konzertorten die ganze Bandbreite ihrer Kunst und brilliert mit einem kleinen Ausschnitt aus Schumanns „Frauenliebe und -leben“. In der Schlussnummer „Nun hast du mir den ersten Schmerz getan“ kehrt sich die Mezzosopranistin vollständig nach innen. Bei Schumanns Klavierquintett op. 44 trifft Ragnhild Hemsing auf Nils Mönkemeyer sowie auf Stephen Waarts und Benedikt Klöckner, beides herausragende Absolventen der Kronberg Academy, und Mario Häring am Klavier. Die Behutsamkeit, mit der sich Eldbjørg Hemsing in Tschaikowskys „Souvenir d’un lieu cher“ hineintastet, anstatt die große Virtuosengeste zu schwingen, beweist das musikalische Format der Geigerin (deren Tan-Dun-CD ich ausdrücklich empfehle).

Egal in welcher Formation diese Musiker auftreten – immer stehen große Spielfreude und perfekte Klangbalance im Vordergrund. Zum Höhepunkt gerät das erste Streichsextett von Johannes Brahms. Eldbjørg Hemsing formt mit Mönkemeyer, Waarts und Klöckner sowie mit Elliott Perks und Duncan Strachan vom Maxwell Quartet ein Ensemble, das so spielt, wie man es unter Freunden tut: Man feuert einander an, geht ins Risiko und gewinnt alles – insbesondere im wilden dritten Satz. Und plötzlich hören wir auch, dass die vierte Variation im zweiten Satz einer Hardanger-Fiedel abgelauscht scheint. 

Zum Abschluss erklingt das Klavierquartett op. 41 von Camille Saint-Saëns, und es spricht für die Natürlichkeit, mit der Ragnhild Hemsing all dies plant, das sie die letzte Runde ihren Gästen überlässt: Waarts, Mönkemeyer, Klöckner und der fantastischen Pianistin Tamar Bereia.

Köln: Jerusalem Quartet
Sepia-Fotografie der Urgroßeltern

Das Jerusalem Quartet eröffnet am 28. Februar sein Konzert in der Kölner Philharmonie mit Mendelssohns Erstem Streichquartett so ruhig und wohl aufeinander abgestimmt, dass man spürt: Diese vier feilen seit der Quartett-Gründung (1996) unablässig am Gesamtklang. Mendelssohn verträgt das, Paul Ben-Haim ebenfalls, der große Klassiker der jüdischen Moderne, emigriert 1933 von Deutschland nach Tel Aviv. Seine Musik ist wie eine Sepia-Fotografie der Urgroßeltern: Im 1937 komponierten viersätzigen Ersten Quartett atmen die melancholischen Melodien die Schönheit Mendelssohns, fletschen gleichzeitig wie Schostakowitsch die Zähne oder leuchten wie Debussy. Dessen Streichquartett liegt in der zweiten Konzerthälfte auf den Pulten des Jerusalem Quartets, und nun hauen die vier Herren auf den Tisch. Mit Sinn für Drama nehmen sie dem Werk alle Esoterik. Vier fantastische Musiker ergeben nicht immer ein hervorragendes Streichquartett. Das Jerusalem Quartet tut es doch. 

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