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HK Gruber. Foto: © Georg Anderhub

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Bechers Bilanz – Januar 2025: „Es kommen härtere Tage“

Vorspann / Teaser

Anlässe gibt es zuhauf, um die nachstehende Kolumne mit dem ersten und letzten Satz aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die gestundete Zeit“ zu übertiteln, erschienen 1953 im gleichnamigen Lyrikband der österreichischen Dichterin. Die kühle Prophezeiung des Satzes (dies ist keine Warnung!) mag jenen in den Sinn kommen, die noch nervenstark genug sind, die Nachrichten zu verfolgen. Was der Bachmann in den frühen 50er-Jahren vor Augen stand, ist kaum der Erörterung wert – ihr Vers trifft ins Herz der Gegenwart.

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Köln: Schlagkonzert mit Christoph Sietzen
Angst und Entschlossenheit

Im Juni letzten Jahres erfreute das WDR Sinfonieorchester mit Philipp Maintz‘ wachem und funkelndem Orchesterwerk „der zerfall einer illusion in farbige scherben“. Da befand sich sein Auftragswerk für die Kölner Philharmonie vermutlich in der Endredaktion: die Vertonung von Ingeborg Bachmanns „Die gestundete Zeit“ unter dem Titel „jag die hunde zurück!“, ebenfalls ein Vers aus dem Gedicht, dieser aber kann, aus dem Zusammenhang gerissen, nur falsch verstanden werden. Bachmanns Schulterschluss von Härte und Verletzlichkeit, von Angst und Entschlossenheit hätte sich in der Besetzung für sechs Schlagzeuger und sechs Soprane spiegeln können. Aber Maintz‘ Klangsprache ist zu unentschlossen, scheut das Feuer wie den Frost, lässt es nicht krachen und nicht klirren. Und aus dem Gesang der Damen des WDR Rundfunkchors schält sich bei der Uraufführung kein Bachmann-Wort heraus. Hoffentlich haben die Konzertbesucher wenigstens das Gedicht im digitalen Programmheft gelesen.

Das vorgeblich einstündige Konzertformat (dieses Programm dauert 90 Minuten) besuchen am 20. Januar auffallend viele Schüler, sorgfältig vorbereitet durch die Education-Abteilung der Philharmonie. Ein Hauch Popkonzert breitet sich aus. Schlagzeuger Christoph Sietzen (in dieser Saison Residenzkünstler in der Philharmonie) bittet mit jungenhaftem Charme um mehr Stille für den leisen Beginn auf der grummelnden Marimba. Das „Spiritual“ von Minoru Miki zeigt, worum es im Schlagzeug oft geht: um Atmosphäre statt um Struktur. Metallene Blitze von Tempelglocken und Schellen zucken über die Marimba hinweg. Ein Stück mit der Dramaturgie und Energie, schließlich auch mit dem Habitus eines Schlagzeugsolos aus dem Rockpalast. Steve Reichs Klassiker „Drumming“, dargeboten mit höchster dynamischer Eleganz von Sietzen und Mitgliedern des von ihm initiierten Ensembles Motus Percussion, wäre ein fulminantes Schlussstück geworden, wenn man es denn hinter die Uraufführung gereiht hätte. Aber Sietzen – auch als Moderator ein Gewinn – dreht in der Zugabe den Abend zu seinen Gunsten mit einem partizipativen Stück, das allen Spaß macht. Standing ovations. 

Köln: Ensemble Modern unter HK Gruber
Zwischen den Katastrophen

Mit dem Ensemble Modern hat der österreichische Komponist und Dirigent HK Gruber Interpretationsgeschichte geschrieben: Von der CD „Berlin im Licht“ (1990) über die „Dreigroschenoper“ (1999) bis hin zum aktuellen Projekt der „Sieben Todsünden“ setzen Gruber und die Frankfurter Maßstäbe in Sachen Kurt Weill. So lasziv klingt seine Melodik nirgendwo sonst, so präzise nicht sein Kontrapunkt, so rüde nicht seine Harmonik. Am 6. Januar gastieren sie mit den „Todsünden“ in der Kölner Philharmonie, es singen Wallis Giunta – sehr sauber, aber das Ensemblemitglied der Wiener Volksoper agiert mit Lust und Augenzwinkern – und mit dem ensemble amarcord einmal ein bestens aufeinander und auf das Werk eingesungenes Männerquartett, was keine Selbstverständlichkeit ist, da man bei der Besetzung der „Todsünden“ immer zuletzt an dieses Quartett denkt. In den „Todsünden“ reisen zwei Schwestern quer durch die Vereinigten Staaten, um Geld für die Familie zuhause aufzutreiben – Geld, das auf Kosten religiöser Integrität verdient werden will. Mit dem Segen der Kurt-Weill-Foundation hören wir eine solistische Fassung, nah an Schönbergs Kammersymphonie, was zuweilen auf Kosten der Balance geht, auch wenn Holzbläser das Streichquintett stützen. Dass die Streicher oft unter dem Radar laufen, gilt auch für die Kammerfassungen von Erich Wolfgang Korngolds Suite „Viel Lärmen um nichts“ und Schönbergs „Begleitungsmusik“ op. 34, nicht aber für Paul Hindemiths hinreißende „Kammermusik Nr. 1“, mit der der Komponist 1922 das erste Festival in Donaueschingen aufmischte. Gruber dirigiert das mit dem ihm eigenen Stil: eckig und energiegeladen, aber mit minimalistischen Bewegungen, die sich vollständig an die Musiker richten. Show war und ist ihm fremd. Was wir an Schmelz verlieren, gewinnen wir an Kantigkeit, Lebensfreude, Durchsichtigkeit. Auf diese Weise spricht die Musik der Weimarer Republik wieder zu uns: in ihrer Mischung aus Tanzbarkeit und Intellektualität, aus Verführung und Zerbrechlichkeit, in der Dienstbarmachung christlicher Prinzipien für die persönliche Bereicherung. Und in ihrer Erleichterung, der Katastrophe entronnen zu sein, wie in der Vorahnung der kommenden. 

CD: Lisa Illean
Das Meer ist tief und kalt

Zu entdecken gibt es die esoterische Klangwelt der Australierin Lisa Illean, deren erste Kammerkompositionen auf einer CD des britischen Neue-Musik-Labels „nmc“ erschienen sind. „Land‘s End“ für Kammerorchester ist von der lettischen Fotografin und Zeichnerin Vija Celmins inspiriert, deren Ozean-Bilder auch die Cover von ECM-CDs schmücken könnten. Mit diesem Hinweis wäre die Musik der Komponistin auch schon treffend umrissen, würde Lisa Illean nicht noch eine zusätzliche Ebene einziehen, die den Unterschied macht: In „arching, stilling, bending, gathering“ verlieren sich Klaviertöne über einem ruhig atmenden, harmonisch schlingernden Klangband von drei Streichquartetten. Ein viertes Streichquartett mischt sich über Tonband dazu, wie ein Geist. Der Youtube-Mitschnitt der Uraufführung bringt dies besser zum Ausdruck als die Klangaufnahme der CD. In die Einkehr, zu der die Musik Illeans einlädt, mischt sich so etwas Bedrohliches, Unaufgelöstes, das besonders in „Tiding II (Silentium)“ hervorbricht. Das Stück, uraufgeführt in Donaueschingen, verfremdet den gewohnten Klangraum der Instrumente noch stärker. Erneut ließ sich die Komponistin von der gekräuselten Meeresoberfläche (samt Lichtspiegelungen eines Leuchtturms) anregen. Genauso trügerisch ruhig empfinde ich ihre Musik. Das Meer ist tief und kalt.

Briefwechsel Henze – Bachmann
Würdige Dinge verteidigen

Und da eingangs von Ingeborg Bachmann die Rede war (zuletzt hat Sandra Kegel in der F.A.Z. an den Roman „Malina“ als „Pflichtlektüre für Demokraten“ erinnert), sei ihr Briefwechsel mit Hans Werner Henze wieder hervorgeholt. Im März 1956 skizziert sie anlässlich einer Lesereise mit wenigen Worten das Bundesland Nordrhein-Westfalen: „Das Rhein-Ruhr-Gebiet hat mich sehr beeindruckt, seine ungeheure Traurigkeit. Was für ein merkwürdiges Land. So viele große Städte, so viele Menschen ohne Wurzeln.“ Als sich aber die 68er nähern, krempelt Ingeborg Bachmann die Ärmel hoch. Im August 1965 bittet sie Henze darum, den von Willy Brandt angeführten Wahlkampf der SPD zu unterstützen. „Ich glaube, wir haben nur die Richtung anzuzeigen, wir haben ja nur ein kleines Metier, ein sehr schönes, freies, und man muss in seinem Metier die Richtung geben. Der große Rest ist allerdings der ,Pragmatismus‘, für den ich keine Verachtung habe, weiß Gott nicht, aber er gehört ins Geschäft und in die Politik, und wir sind hier, um die Pragmatiker in die Schranken zu weisen und einige wenige würdige Dinge zu vertreten und zu verteidigen. Und die sind absolut, obwohl sie nur unsren Köpfen entsprungen sind, die Konzeptionen der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Freiheit. Davon geht nur wenig ein in die Parteiprogramme, und in die deutschen besonders wenig.“

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