Dicht besetzte Reihen, starke Dirigentinnen, ein Publikum, das auch bei neuer Musik aus dem Häuschen gerät – beim märzlichen Treiben durch die Konzertsäle schien mir, dass die Musikwelt sich gestärkt aus der Pandemie erhebt. Eine Momentaufnahme, vielleicht nur. Aber eine, die zufrieden stimmt.
Dortmund: Barbara Hannigan
… ein Schlussakkord, der alle Türen öffnet…
Barbara Hannigan hat für ihre Tournee mit dem London Symphony Orchestra eines dieser Denkräume öffnenden Konzertprogramme zusammengestellt, bei denen nur wenige Veranstalter sich zuzugreifen trauen. Das Konzerthaus Dortmund hat gleich das Doppelpack eingekauft: einmal Leben nach dem Tod, einmal an dessen Rand. Luciano Berios Bearbeitung aus Bachs „Kunst der Fuge“ mit einem Schlussakkord, der alle Türen öffnet; Alban Bergs Violinkonzert mit Veronika Eberle, das ich selten so fokussiert und zugleich beschwingt vernommen habe; Joseph Haydns „Abschieds-Symphonie“; vor allem aber den Kanadier Claude Vivier, den man hören sollte, so oft sich die Gelegenheit bietet. Es geschieht selten genug. „Lonely Child“ ist ein strenges Ritual, ähnlich Galina Ustwolskaja, aber verlorener, nicht so zornig. Vivier rechnet nicht mit Gott, er verkriecht sich. Gesungen hat Aphrodite Patoulidou, die Viviers Einsamkeit zu spiegeln weiß. Standing Ovations im voll besetzten Konzerthaus Dortmund (4. März 2023).
Köln: Barbara Hannigan
… wohin die Klänge bei Olivier Messiaen zielen …
Die himmlische andere Hälfte des Doppelgastspiels war auch in der Kölner Philharmonie zu erleben (9. 3.). Barbara Hannigans nach oben gerissene Arme zeigen an, wohin die Klänge, insbesondere die strahlenden Dur-Abschlüsse in Olivier Messiaens „L’ascension“ zielen. Mahlers Vierte macht sich auf einen ähnlichen Weg, ist aber von soviel grimmigem Jahrhundertwende-Skeptizismus unterminiert, dass dem lieben Frieden nicht zu trauen ist – wohl aber dem Londoner Spitzenorchester. Die Nebenstimmen sind stark konturiert (manchmal, im ersten Horn, auch penetrant), aber die ersten Takte nimmt die Dirigentin so langsam, dass es im Orchester zu wackeln beginnt. Das Leichte, Schelmische, Wienerische ist Hannigans Sache nicht, erst im langsamen dritten Satz stößt sie ins Herz dieser Musik vor. Das morendo der letzten Symphonietakte reißt das Publikum in der sehr gut besuchten Philharmonie nicht von den Sitzen, der Beifall ist dennoch herzlich.
Köln: Karina Canellakis – Daniil Trifonov
… optimales Zusammenspiel über alle Stolperfallen hinweg …
Nur drei Tage (12. März) später gastiert am gleichen Ort das London Philharmonic Orchestra mit seiner Ersten Gastdirigentin Karina Canellakis. Das Tourneeprogramm leider auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert, aber mit welcher Präzision und Verve die in New York geborene Dirigentin Ludwig van Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre präsentiert, ist herausragend. Bei Sergei Prokofjews Drittem Klavierkonzert hält sie ständigen Kontakt, nicht nur mit ihren Musikern (und zu 50% Musikerinnen, auch in den Bläsern!), sondern auch mit dem Solisten Daniil Trifonov, und garantiert so ein optimales Zusammenspiel über alle Stolperfallen des Werkes hinweg.
Den Haag: Anja Bihlmaier – Gregor Mayrhofers „Recycling Concerto“
… eine windschiefe, aber zart gewebte Klangwelt …
Ein Besuch in der niederländischen Hauptstadt am 31. März: Das Residentie Orkest spielt unter seiner Chefdirigentin Anja Bihlmaier ein Programm zum Klimawandel. Im coronazersägten Beethovenjahr 2020 gab es eine Initiative, die „Pastoral-Symphonie“ als musikalisches Öko-Mahnmal zu inszenieren. In Den Haag hat man jetzt das Thema mit kraftvoller Geste umgesetzt, was plakativ wirken mag, aber wer wider besseren Wissens Maßnahmen zur Abmilderung des Klimawandels ausbremst, neigt ja auch nicht zu differenzierter Argumentation. Tobias Melle projiziert auf eine Leinwand hinter dem Orchester Fotos und kleine Filmsequenzen, die die Schönheit der Natur, deren Inbesitznahme durch den Menschen, schließlich deren Standhaftigkeit zeigen – während die Chefin ihr Orchester zu einer federnden und elegant phrasierten „Pastorale“ anfeuert. Vor der Pause wirbelt Vivi Vassileva durch Gregor Mayrhofers „Recycling Concerto“, eine Komposition, die aus leeren Nespresso-Kapseln, Plastikflaschen und ausgemusterten Blumentöpfen eine windschiefe, aber zart gewebte Klangwelt hervorzaubert, derweil akustische Signaturen unserer lauten Markenwelt durch die Partitur geistern. Das ist leichter zu hören als zu realisieren. Während die Musikerinnen und Musiker mit Spielfreude und großer Konzentration bei der Sache sind, folgt das Publikum im nahezu vollem „Amare“-Konzertsaal – auch dank der prägnanten Einführung durch den Komponisten – gebannt dem Geschehen und applaudiert begeistert.
Köln: Klaus Mäkelä – Orchestre de Paris
Großes Kino mit Berlioz
Bei der Laufbahn von Klaus Mäkelä reibt man sich bereits beim Lesen die Augen – noch mehr, wenn der 27-jährige finnische Dirigent vor einem, vor allem aber vor dem Orchestre de Paris steht, das er seit 2020 als Musikdirektor anführt. Nächste Karriere-Station: Concertgebouworkest ab 2027/28. Großes Kino die „Symphonie Fantastique“: Mäkelä versucht nicht, das Grelle von Berlioz’ Publikumshit wegzuretuschieren, er betont es eher. Dass er beim Walzer zu dirigieren aufhört, geschieht zu demonstrativ, um einer spontanen Laune zugerechnet zu werden. Es ist trotzdem riskant, die Rubati hätten auch schief gehen können. Mäkelä ist ein Darling des Musikbetriebes. Mir sagte ein Orchesterchef, er halte ihn für die größte Begabung seit Daniel Harding. Man versteht an diesem Abend warum. Großer Jubel in der ausverkauften Kölner Philharmonie (8. März).
Köln: Cathy Milliken – Ensemble Modern
„Night Shift“, ein partizipatives Projekt, das klappt
Cathy Milliken hat dem Ensemble Modern, zu deren Gründungsmitgliedern sie gehört, eine Komposition auf den Leib geschrieben, deren phantasievoller und angstfreier Heterogenität man die jahrelange Zusammenarbeit mit Heiner Goebbels anhört. Eine Musik von fröhlicher Zärtlichkeit. Hinzu tritt Michael Schiefel als ein mühelos in vier Oktaven beheimateter Tenor, der eine Reihe Jazz-Platten veröffentlicht hat, darunter Eislers Hollywood-Liederbuch. Schiefel und Dirigent Jonathan Stockhammer animieren das Publikum dazu, die verteilten Klangerzeuger (Papier, Egg Shaker, Glöckchen, Heulschläuche) richtig einzusetzen, denn „Night Shift“ ist zuallererst ein partizipatives Projekt. Es klappt. Das Durchschnittsalter in der Kölner Philharmonie (5. März) ist geschätzt 12 Jahre alt, die Stimmung ausgelassen, doch die Kinder bleiben auch in der knappen Dreiviertelstunde Neue Musik aufmerksam.
Essen: Gordon Kampes „Dogville“
Grabbelkasten mit tausend kleinen Ideen … ein Glücksfall
Mit einer nach etlichen Corona-Verschiebungen endlich erfolgten Uraufführung hat das Aalto-Theater Essen das nationale Feuilleton bezaubert: Gordon Kampe konzentriert Lars von Triers verstörenden dreistündigen Schwarzweiß-Film „Dogville“ verlustfrei auf 90 Opernminuten. Triers karges Probebühnen-Setting spielt in Essen keine Rolle. Hier punktet man mit einem spektakulären Bühnenbild mit ellenlanger Schräge, in der von rechts nach links ein Handlungsspielort nach dem anderen sichtbar wird und gleichzeitig allmählich abhebt. Während in der Introduktion die Personen vorgestellt werden, schüttet Kampe einen Grabbelkasten mit tausend kleinen Ideen aus, dann sortiert er diese in profilierten Abschnitten, die den Gesang tragen und Atmosphäre spiegeln. Zum Martyrium der Hauptfigur Grace fallen ihm die stärksten Momente ein. Überhaupt ist es der Abend der Sopranistin Lavinia Dames, deren gesangliche Intensität sich vor der schauspielerischen von Nicole Kidman nicht verstecken muss. „Dogville“ erzählt keine Geschichte, die man gerne hört: ein Revenge-Drama, das davon lebt, dass der Zuschauer auf die Bestrafung wartet und so zum Mittäter wird. Gleichzeitig aber auch eine Sozialstudie über eine verschworene Gemeinschaft, die, konfrontiert mit dem Fremden, ihr ganzes Vernichtungspotenzial entfaltet. Gordon Kampes Oper, die zu besetzen einem Opernhaus nicht schwer fallen dürfte, ist ein Glücksfall.
New York: Residenz-Kino Köln
… sehr physisches, geradezu jugendliches Wagner-Erlebnis …
Und dann war da noch ein „Lohengrin“ – übertragen aus der New Yorker Met und bequem im heimischen Kino bei kleinem ökologischem Fußabdruck erlebbar. Das Residenz-Kino in Köln, das auch sonst mit Komfort und Begrüßungscocktail punktet, ist am 18. März gut gebucht, das Publikum unterscheidet sich nur unwesentlich von einer „normalen“ Opernvorstellung, einige klatschen sogar nach Aktschluss. Bariton Christopher Maltman führt durch die Pausen und wirbt überzeugend für sein Opernhaus, das nach der Pandemie die Orchestermitglieder offenbar wieder angestellt hat. Die Inszenierung von François Giraud konzentriert sich auf schöne Bilder, interessiert sich aber kaum für ihre Protagonisten und denunziert sie sogar. Die Titelpartie ist bei Piotr Beczała in bewährten Händen, Yannick Nézet-Séguin sorgt für ein sehr physisches, geradezu jugendliches Wagner-Erlebnis. Aber Ortrud als Hexe, rote Zaubersteine zu einem Diagramm ordnend? Die einzige Person dieser Oper, die wirklich einen Plan hat, ist eine der wenigen machtbewussten und modernen Frauenfiguren, die Wagner erschaffen hat. Das wäre etwas für Gordon Kampe: ein Prequel zum „Lohengrin“, mit Ortrud als Hauptperson.