Eine „Carmen“ ohne Habanera? Der Bärenreiter Verlag publiziert die Oper aller Opern erstmals in der Urfassung von 1874. Darin gibt es deutlicher weniger Spanien und statt der Habanera eine Arie, deren Schönheit sich nicht heranschmeißt. Ich entdecke neue Musik. Und natürlich bei Michel van der Aa und Bernhard Lang.
Bechers Bilanz – März 2024: Weibliche Faust und nachtschwarze Carmen
Köln: „Carmen“ halbszenisch mit René Jacobs
Urfassung der Oper aller Opern
„Carmen“ im director’s cut gastiert am 17. März halbszenisch in der fast ausverkauften Kölner Philharmonie. René Jacobs reist mit dieser neuen alten Urfassung durch die Konzerthäuser Europas mit dem B’Rock Orchestra, erlesenen Sängerinnen und Sängern sowie herausragenden Kammer- und Kinderchören aus Belgien. Im Publikum jubelt Jung und Alt. „Carmen“ wirkt immer und auf alle.
Sie wirkt auch mit französischen Dialogen und Melodramen – zumindest bei diesem Ensemble: Gaëlle Arquez verkörpert Carmen mit königlicher Bühnenpräsenz und einem nachtschwarzen Mezzo, der seine Zuhörer nicht lockt, sondern gleich verbrennt. Sabine Devieilhe phrasiert ihre Micaëla mit größter Gesangskultur und deshalb fliegen ihr die Herzen der Zuhörerinnen entgegen, auch wenn die Stimme etwas flach bleibt. François Rougier als José stemmt im Ersten Akt noch etwas, aber seine Liebesarie im Zweiten hat man so zärtlich und verloren selten gehört. Käme ein Besucher erst zum Schlussapplaus, hielte er Thomas Dolié für den Chorleiter. Sein Escamillo verführt mit Eleganz statt mit Testosteron. Endlich hört man in seinen Arien Musik und nicht Gebrüll. In den Chören und Ensembles verwirklicht Jacobs eine gestochen scharfe Präzision, die man bei Bühnenaufführungen so oft vermisst. Der Chœur de chambre de Namur Thibaut Lenaerts und der Kinderchor der Oper Vlaanderen Hendrik Derolez sind die Sensation des Abends.
Die Arbeit des Kasseler Verlages hat sich gelohnt. In den ungekürzten Dialogen öffnen sich der Geschichte neue Türen und verblassen die Klischees. Insbesondere der Baske José, ein Fremder unter der andalusischen Sonne, gewinnt an Glaubwürdigkeit. Behutsam justiert Jacobs die Tempi, drosselt das Flötenduett am Beginn des 2. Aktes, zieht dafür bei der Nachtmusik an und befreit sie vom Kitsch. Konzertmeister Evgeny Sviridov hält die Fäden zusammen, den historischen Blechinstrumenten fehlt es an Tiefe, dafür glänzen die beiden Flötistinnen Tami Krausz und Barbara Ferraz.
Leider erlaubte das Budget offenbar keine professionelle Personenregie. Während die Musik mit Carmen-Klischees aufräumt, schleichen sich diese auf die Bühne zurück. Im Programmheft bekennt sich niemand dazu, womöglich schmiss das Ensemble seine eigenen „Carmen“-Erfahrungen zusammen. Werden deshalb in einer kreuz-konventionellen Aufführung plötzlich Mobiltelefone gezückt? Wir hören darüber hinweg.
Übrigens finden sich alle Programmhefte der KölnMusik auf der Website der Kölner Philharmonie, auch Monate danach. Wer sich für die „Carmen“-Urfassung interessiert, kann das Interview mit René Jacobs hier (PDF) nachlesen.
Köln: „The Book of Water“
Jenseits der Erinnerung wartet die Leere
Seit Tagen regnet es ohne Unterlass. Einsam steht das Haus inmitten fruchtbarer Felder, im Keller staut sich das Wasser, ein Erdrutsch verschüttet die Straße, wenigstens gibt es wieder Strom. Hier lebt der alte Herr Geiser, allein, jetzt isoliert, und er spürt: Ich kann mich nicht mehr erinnern, mein Gedächtnis bröselt. Michel van der Aa schmiedete aus dem Roman „Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch eine gut einstündige Kammeroper, wie sie typisch für den niederländischen Komponisten und Regisseur ist: Instrumentalklänge (hier ein Streichquartett vom Ensemble Modern), Bandzuspielungen, ein Schauspieler, der mit dem Film als Teil des Bühnenbildes agiert – es entsteht ein delikates Gesamtkunstwerk. Der Herr Geiser im Film, gespielt von Timothy West, spiegelt sich in seinem leibhaftigen Sohn auf der Bühne, Samuel West, Schauspieler wie sein Vater. Diese Kombination ist der Clou der Aufführung, denn der junge Geiser verkörpert, was der alte noch zu sein glaubt. Im Film umsorgt die Tochter Mary Bevan ihren Vater mit einer Sopran-Arie. Am Vorabend des Weltwassertages kommt die Produktion, die sich sechs Auftraggeber teilen, am 21. März in die Kölner Philharmonie. Die Inspiration des Textes, die Erhabenheit der Bilder, die Würde des alten Schauspielers, das schöne Englisch des jungen, die zitternde, aber harmonisch gebändigte Energie des Streichquartetts – all das beeindruckt und funktioniert sicher auch als Film pur. Niemand sonst bringt Film und Musik so poetisch zusammen wie Michel van der Aa. Allerdings verliert die furchtbare Krankheit Demenz in van der Aas ästhetisierender Darstellung ihren Schrecken. Ich empfehle daher die Lektüre von „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger. Es ist ebenso liebevoll wie „The Book of Water“, lässt aber keinen Zweifel daran, dass jenseits der Erinnerung eine entsetzliche Leere wartet.
Stuttgart: „Dora“ von Bernhard Lang
Habe nun ach eine neue no-future-Generation
Der österreichische Komponist Bernhard Lang beherrscht den Umgang mit Wiederholungsschleifen, sogenannten Loops, die die Kompositionsstruktur prägen, nicht eine minimalistische Klangoberfläche. In seiner Oper „Dora“ auf ein anspielungsreiches Libretto von Frank Witzel grundieren die loops einen musikalischen Comic. „Dora“ – eine nihilistische Variante des Faust-Stoffes für eine Gesellschaft ohne Seele, Ziel und Rat – siedelt einen weiblichen Faust im sozial prekären Milieu an. Die gelangweilte Titelheldin weiß als Erbin der no-future-Generation mit dem Pakt nichts anzufangen, und auch der Teufel stolpert orientierungslos durch das Geschehen. Bernhard Langs Musik, Elena Schwarz dirigiert eine kleine Abordnung des Stuttgarter Opernorchesters, entstammt ebenso der Postmoderne: heterogen, zuweilen geschmacklos, niemals langweilig. Sie zitiert sich kreuz und quer durch die Operngeschichte. Ein Popsong hier, eine Schlagzeugbatterie dort (verteilt in den Logen), Wagnerwendungen allerorten. Regisseurin Elisabeth Stöppler passt sich dem anarchischen Gestus des Librettos an und punktet gemeinsam mit dem Bühnenbildner Valentin Köhler durch grandiose Bühneneinfälle. Die Videoprojektionen von Vincent Stefan werden dem Geschehen nicht aufgestülpt, sondern sind Teil der sehr genauen Personenführung. Die 4. Vorstellung am 22. März ist ausverkauft, das junge Stuttgarter Opernpublikum feiert das Ensemble, allen voran die beiden Hauptpersonen: Marcel Beekman als Teufel, ein schneidiger Spieltenor aus Amsterdam und eine starke Bühnenpersönlichkeit, und das Stuttgarter Ensemblemitglied Josefin Feiler als Dora mit einem Sopran, der weder stemmt noch schrillt und dennoch ein großes Volumen besitzt. Von dieser Sängerin könnten wir noch viel hören.
Köln: Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Ariane Matiakh
„Lyrische Symphonie“ mit reduzierten Streichern
Alexander Zemlinskys chef d'oeuvre „Lyrische Symphonie“ funktioniert wie das „Lied von der Erde“, dem es ähnelt, auf der Bühne nicht ohne weiteres. Ein Sopran und ein Bariton müssen sich gegen 90 Musikerinnen und Musiker durchsetzen. Dabei bleibt oft die Textverständlichkeit, manchmal die Musikalität auf der Strecke. Die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter ihrer Chefdirigentin Ariane Matiakh macht bei ihrem Gastspiel in der Kölner Philharmonie am 3. März aus der Not eine Tugend und reduziert den Streicherapparat auf eine 12er- (statt der üblichen 16er-) Besetzung. Zudem dirigiert die Französin mit größter Klarheit, ohne sich vom komplexen Tonsatz Zemlinskys ins Bockshorn jagen zu lassen. Sie nimmt die Tempi mit Bedacht, schleppt aber in den lyrischen Sätzen nicht, und so blüht Zemlinskys Musik auf, auch dank der sehr guten Bläser, allen voran Solo-Klarinettistin Eszter Hernadi, der die Dirigentin am Ende den Blumenstrauß weiterreicht. Die Rumänin Iulia Maria Dan und der Litauer Kostas Smoriginas sind die verlässlichen Solisten der Aufführung. In der ersten Hälfte kombiniert Ariane Matiakh Haydns 82. Symphonie mit einer Ouvertüre der Haydn-Zeitgenossin Marianna von Martines. Spritzige Musik, eine echte Repertoire-Bereicherung.
Henze-CD mit dem Mozarteumorchester Salzburg
Nebentätigkeiten mit Italianità
Das Mozarteumorchester Salzburg, gerühmt für Interpretationen seines Namenspatrons, erweitert Repertoire und Image durch eine CD-Serie, die sich in der dritten Ausgabe ins 20. Jahrhundert tastet. Es finden sich auf der von der Taiwanesin Lin Liao dirigierten CD drei Werke von Hans Werner Henze, der ebenfalls ein inniges Verhältnis zum Salzburger Klassiker hatte. Die Italianità Henzes, die Sehnsucht nach Schönheit und klassischen Formen begründete seine Verbrüderung mit Mozart, zum Beispiel in „Il Vitalino Raddoppiato“ (1977). Henze instrumentiert Variationen von Tomaso Vitali und überwuchert dessen Klangsprache allmählich mit der seinen. Eine Nebentätigkeit, wie auch die beiden anderen Werke der CD. Die Konzertmusik für Violine solo und kleines Kammerorchester ist die Arbeit des Siebzehnjährigen, noch vom geschäftigen Neoklassizismus geprägt, aber mit einem traumhaft reduzierten langsamen Mittelsatz, mehr Hauch als Musik. Zu hören ist die Uraufführung des nach dem Krieg vergessenen Werks, den Solopart übernimmt der österreichisch-chinesische Geiger Ziyu He, der mit einer schwer zu spielenden, gleichwohl auf Virtuosenmätzchen verzichtenden Solokadenz glänzt. Den Abschluss der CD bilden drei Orgelsonaten aus Mozarts Feder, die Henze 1991 für das Scharoun-Ensemble bearbeitete. Auch dieses Werk erklingt als Ersteinspielung. Das Mozarteumorchester musiziert auf dieser bei Berlin Classics erschienenen CD mit durchgehend höchster Klangkultur. Das Booklet enthält einen schönen Text des Orchesterchefs Siegwald Bütow, verschweigt aber unerklärlicherweise die Lebensläufe von Dirigentin und Solist.
Abschied von Peter Eötvös
Zum großen, undogmatischen, menschenfreundlichen Peter Eötvös eine Erinnerung: Im September 2000 brachte Operndirektor Louwrens Langevoort an die Hamburgische Staatsoper „Tri sestri“ mit. Erstmals in Deutschland in der Fassung mit vier Countertenören. Damals schrieb ich im „Journal“ des Hauses: „Fünf Jahre arbeitete Peter Eötvös an seiner Oper, tief versenkte er sich in Tschechows Figuren. Die Sanftheit seiner Musik, in der sich Gesang meist in weit geschwungenen Kantilenen entfalten kann, zeigt die Sympathie, die der Komponist für sie empfand. Was den Figuren widerfährt – ihre Angst vor der Ödnis, vor dem Bruch zwischen Erträumtem und Erlebtem, ihre Ohnmacht gegenüber dem Weltlauf –, verdeutlicht Eötvös nicht durch exzentrische Klänge, sondern durch die Konzentration auf ihr Innenleben. (…) Allen Liebesszenen zum Trotz endet jeder Abschnitt mit einer Abschiedsszene, mit Menschen, die sich davon stehlen, und solchen, die verlassen werden.“
Noch einmal: „Die Soldaten“
Die in der Januar-Bilanz besprochene Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“, szenisch für den Konzertsaal eingerichtet von Calixto Bieito und dirigiert von François-Xavier Roth, kann man sich auf YouTube ansehen. Nicht die Aufführung aus der Kölner Philharmonie, sondern die aus der Elbphilharmonie.
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